Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
nett, nur dass er mein Vater sein soll … das muss irgendwie erst rein in mich …“ Kann so etwas gelogen sein? Carmens letzte SMS an Weis. „Okay, ich komme.“ Wer weiß, wohin er sie bestellt hat? Weit fort. Wie weit fort? Ida Moylen. Die kosovarische Putzfrau ist überzeugt davon, dass Moylen tierisch eifersüchtig ist. Was, wenn sie vom Kontakt zwischen Carmen und Weis erfahren hat? Wenn sie … Nein. Anders denken. Obwohl Moylen zumindest ahnen muss, dass Weis ihr nicht treu ist, hält sie zu ihm. Nur weil sie sein Buch braucht? Weil der Verlag ohne „Weis.heiten“ Pleite machen könnte?
Südbahnhof. Ein paar Sandler stehen bei der großen Uhr und laden mich ein mitzutrinken. Ich zögere. Warum eigentlich nicht? Dann winke ich ihnen und gehe weiter. Moylen ist eifersüchtig. Wenn ich ihr erzähle, was auf der Waldlichtung passiert, wenn wir ihr die Bilder zeigen: vielleicht wiegt das dann mehr als das Buch? Mehr als Weis? Ich habe ja selbst erlebt, wie emotional sie reagieren kann. Wir haben nicht viele Chancen. Wir müssen jede kleine Möglichkeit nützen. Ich setze mich auf eine Bank vor einem Seiteneingang des Belvedere. Der Himmel, so scheint es mir, wird etwas heller. Ich will auf die Zeitanzeige meines Mobiltelefons sehen. Ich habe es ausgeschaltet. Gut so. Ich lehne mich zurück. Ich starre nach oben. Kann es wirklich sein, dass er heller wird?
„He“, sagt jemand und rüttelt mich so, dass ich aufschreie. Der Jemand trägt eine knallorange Jacke. Der Jemand ist von der Müllabfuhr. Ich bin kein Müll. Noch nicht.
„Du kannst da nicht schlafen“, sagt er mit türkischem Akzent. „So jung und auf Straße.“
Ich lächle und mag ihn für das „Jung“. „Das ist eine Ausnahme“, sage ich und er schaut mich misstrauisch an. Ich greife nach der Tasche, sie liegt immer noch neben mir. Ich gehe zurück zum Südbahnhof und steige in das erste der wartenden Taxis. Ich muss zu Vesna. Wie wir über den Gürtel fahren, sehe ich, dass die Sonne orangerot aufgeht.
„Nein“, sage ich zu Vesna, „schlafen kann ich auch später. Es geht mir gut.“ Vor mir steht der zweite extrastarke Kaffee, ich habe geduscht, ich fühle mich wach. Selbst der Brustkorb schmerzt nicht mehr so stark.
Vesna schüttelt den Kopf. „Ich muss zu Gericht. Du erinnerst dich, bin ich Zeugin im Verfahren gegen Medikamentendiebe. Das ist Pflicht. Dann kümmere ich mich um Moylen. Sie redet nicht mit dir. Vielleicht mit mir.“
„Ich weiß, mit wem Moylen redet!“, rufe ich überdreht. „Berger! Sie hatte einmal etwas mit Berger, sie haben sich jedenfalls geküsst, leidenschaftlich, hat deine Nurie gesagt.“
„Nicht gerade ein Grund, dass sie mit ihm redet, wo sie mit Weis zusammen ist“, widerspricht Vesna.
„Ich fahre zu Berger, ich überrede ihn, mit mir gemeinsam zu Moylen zu fahren. Wir erzählen ihr, was Weis so treibt, und dann …“
„Richtig“, sagt Vesna. „Und dann? Was ist dann?“
„Es ist gut möglich, dass sie etwas mitbekommen hat. Sie deckt ihn. Ob sie das dann auch noch tut? Es ist einen Versuch wert.“
Vesna seufzt. „Du hast nicht geschlafen. Ich mache mir Sorgen um dich, Mira Valensky.“
„Ich mache mir Sorgen um Carmen, Vesna Krajner.“
Zum Glück hat Vesna schon vor einigen Tagen Bergers Privatadresse recherchiert. Wäre nicht gut, im Weis.Zentrum mit dem Guru zusammenzutreffen. Ich weiß nicht, wozu ich fähig wäre. Mira, es ist nicht bewiesen, dass er etwas mit dem Verschwinden der beiden Frauen zu tun hat. Und nachdem Carmens letzte SMS an Weis ging, steht er in Zuckerbrots Verdächtigenliste sicher ganz weit oben. Sicher? Was ist schon sicher.
Wohnhaus aus den Achtziger-, vielleicht auch Neunzigerjahren. Modernes Gebäude, glatte Fassade, jede Wohnung mit Terrasse, große Fenster, gute Lage. Ruhige Gasse und trotzdem in Innenstadtnähe. „Topwohnung in Toplage“ würde so etwas in einem Maklerinserat wohl heißen. Soll ich läuten? Oder ist es besser, ich passe Berger hier vor der Eingangstüre ab? Wer weiß, wann er kommt? Ob er überhaupt daheim ist? Sicher wird auch er von Zuckerbrots Leuten befragt. Eine Frau um die vierzig mit einem Kinderwagen. Kind oder Enkelkind? Die Generationen verschieben sich, schieben sich ineinander. Zwei Burschen mit schwerer Umhängetasche. Schüler oder schon Studenten? Das Tor zur Tiefgarage geht auf. Daran habe ich nicht gedacht. Berger hat ein Auto. Er könnte aus der Tiefgarage fahren, an mir vorbei. Ich starre auf den Wagen, der da
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