Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
und die Computerstimme führt mich, so als ob nichts gewesen wäre, durch ein paar Straßen zum eingegebenen Ziel. Und dort: Ausläufer der gigantischen Autobahnbaustelle. Erdlöcher, Erdhügel, Erdschneisen. Silos für Schotter oder für Beton, Lastwagen, sorgsam aufgereiht, Kühlerhaube neben Kühlerhaube, wie zum Appell angetreten, mindestens zwanzig zähle ich, sechs Bagger mit der Schaufel am Boden. Container. Alles schläft und wartet darauf, morgen wieder Lärm machen und in der Erde wühlen zu dürfen. Ich kneife die Augen zusammen. Ich sollte schon länger eine Brille tragen. Aber muss man alles so scharf sehen? Im Augenblick allerdings wäre es von Vorteil. Ich habe ein Fernglas. Aber ich habe es nicht dabei. Das dort drüben könnte Vesnas alter Renault sein. Ich fahre einfach von der Straße ab, endlich kann ich meinen Allradantrieb brauchen, Unsinn, Vesna hat keinen dieser beliebten SUVs und hat es dennoch geschafft, auf dem Lehm der Baustelle zu parken. Ich drehe das Licht ab. Mein Auto ist Hunderte Meter weit zu sehen gewesen. Wenn hier jemand lauert … Wer sollte lauern? Weis? Unsinn. Licht. Dort hinten. Ich steige aus, schleiche, im Bewusstsein, dass Vesna da irgendwo sein muss, mutig näher. Ich bin geblendet. Brutales Licht auf meinem Gesicht.
„Mira Valensky“, sagt Vesna. „Hast du aber lange gebraucht.“ Erst jetzt senkt sie den Lichtkegel der Taschenlampe.
Ich atme geräuschvoll aus.
„Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt. Da hinten ist Recyclinganlage“, sagt Vesna und deutet auf ein eigenartiges Stahlmonster, das von hier aus wirkt wie eine übergroße Kunstinstallation. So etwas wie die Reinkarnation des Brontosaurus. Der lange Hals: Das ist ein Förderband, sehe ich beim Näherkommen. Der gedrungene, schwere Körper, mindestens drei Meter hoch: Ein riesiger Metallbehälter, da sind wohl die Brocken drin, die zermalmt werden sollen. Vor der Anlage Bruchasphalt, Stücke von einem Meter Durchmesser, wie schwarzes Packeis übereinandergeschichtet. Hinter der Anlage Berge von zerkleinertem Material. Neben der Anlage eine Halle. Ich sehe mich um. „Ist da keiner?“, frage ich Vesna. Sie schüttelt den Kopf.
„Halle ist abgesperrt. Wenn wer da hineingeworfen wird, ist es vorbei“, ergänzt sie und deutet auf den Metallkörper.
„Die Anlage läuft nicht. So etwas macht mit Sicherheit eine Menge Lärm“, erwidere ich. Mir ist bei dem Gedanken nicht wohl: Weit und breit kein Mensch und wir allein bei dieser Monstermaschine, die alles zermalmt. Alles. Wenn man sie nur lässt. Warum ist diese Adresse auf dem Zettel gestanden? Was ist, wenn Weis seine Jüngerinnen nur hierher bringt, um ihnen einen drastischen Fall von Recycling vorzuführen? Ich traue es ihm zu.
„Ist das nicht viel zu staubig für seine Frauen?“, fragt Vesna.
„Aber auch spannend. Für die meisten etwas, das sie noch nie gesehen haben. Lärm und Schmutz und schwitzende Männer und all so etwas.“ Ich gehe zur Halle hinüber. Kleine Tür in einem großen Tor. Die Tür ist versperrt. Ich ziehe am Griff des großen Tores.
„Ich habe schon gesagt, das ist zu“, murrt Vesna. „Kannst du mir vertrauen.“
„Was machen Sie hier?“ Eine laute Stimme. Wir fahren herum. Hinter uns ein Mann, in etwa so groß wie Oskar und auch so schwer.
„Und was Sie?“, fragt Vesna. Dreißig Zentimeter kleiner, vierzig Kilo leichter und nur mit einer Taschenlampe bewaffnet.
Er ist für einen Moment verunsichert. „Ich bin vom Wachdienst. Ich bin berechtigt, Sie bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten.“
Ich habe eine Idee. Ich krame in meiner Tasche. Die Hand des Wachebeamten greift blitzschnell in Richtung Hosenbund. Ich reiße meine Hand aus der Tasche. Schaue in die Mündung einer Pistole. Oder eines Revolvers. Ich kenne mich da nicht so aus, ist auch egal, womit ich erschossen werde. Ich versuche ein Lächeln. „Ich wollte bloß nach meinem Presseausweis suchen“, sage ich. Die Waffe ist weiter auf mich gerichtet.
„Tun Sie dummes Ding weg“, sagt Vesna.
„Ich habe heute auf der Baustelle Interviews gemacht und dabei mein Aufnahmegerät verloren. Ich brauche es. Morgen Nachmittag kommt das neue ‚Magazin‘ raus, ich habe Redaktionsschluss“, erkläre ich so ruhig wie möglich.
„Wir sehen nicht aus wie Verbrecher, oder?“, meint Vesna.
Der Wachmann lässt die Waffe langsam sinken. „Es gibt jede Menge Einbrüche auf der Baustelle. Sie klauen Geräte aus den Lkw und alles, was sie finden
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