Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
könnte, würde das „Blatt“ wohl für Folter eintreten, um Zerwolf zum Reden zu bringen. Neben dem Artikel ein kurzes Interview, ich hätte es beinahe übersehen. Weis, „viel gelesener Kolumnist des ‚Blatt‘ “ – richtig, da tritt er ja auch auf –, über seinen „Kollegen“: Man dürfe natürlich niemanden vorverurteilen – allein Zerwolf als Kollegen von Weis zu bezeichnen, ist eine Verurteilung, finde ich –, aber er müsse bestätigen, „dass Zerwolf zum Zeitpunkt des Drohanrufs nicht im Saal war“. Was hat er mir gesagt? Da er als Erster aufgestanden sei, könne er nicht wissen, wer sonst noch rausgegangen sei. Es folgen Weis’ allgemeines Geschwätz über Terrorismus und die Angst in uns und der Hinweis, dass in Kürze sein Buch „Weis.heiten“ erscheinen werde, das dem „schrecklichen Anschlag“ und seinen Hintergründen ein eigenes Kapitel widme.
„Beobachtet Kra Zerwolf schon?“, frage ich Vesna. Sie schüttelt den Kopf. „Sie hat ein Seminar, sie wollte um zweiundzwanzig Uhr anfangen, aber das ist jetzt sinnlos. Der wird jetzt genug beobachtet. Von Polizei. Wahrscheinlich auch von Reportern.“
„Seine arme Assistentin“, sage ich.
„Ich habe ein Buch von Zerwolf gelesen“, sagt eine Stimme knapp hinter mir. Ich drehe den Kopf. Ist mir gar nicht aufgefallen, dass Carmen mitgehört hat. Und ich weiß nicht, ob es mir gefällt, dass sie philosophische Bücher liest.
„Es hat was mit Politikwissenschaften zu tun“, ergänzt sie.
„Und hat es etwas mit unserem Thema zu tun?“, will ich wissen.
„Mit Terrorismus? Nein. Es geht um Staatsformen und um die existenzphilosophische Frage, ob das Konstrukt eines Staates so etwas wie kollektives Bewusstsein schaffen kann.“
„Das heißt, ob Bosnier wirklich so denken und handeln, weil sie Bosnier sind, oder nur weil sie glauben so handeln zu müssen, weil sie Bosnier sind?“, fragt Vesna.
„Genau“, strahlt Carmen. „So toll hätte ich das nicht formulieren können. Sind Sie Philosophin?“
„Manchmal“, antwortet Vesna.
„Was hast du wirklich gemacht, bevor du aus Bosnien gekommen bist?“, frage ich meine Freundin.
Sie grinst. „Habe ich Kinder gemacht.“
„Wer ist dieser Weis?“, fragt Carmen.
Ich seufze.
„Was er hat für einen Grund, Zerwolf in Verdacht zu bringen?“, fragt Vesna. „Zum Glück du bist nahe an ihm dran“, sagt sie dann.
Ich schüttle den Kopf und erzähle, dass wir in äußerstem Unfrieden voneinander gegangen sind.
„Und du kannst dich nicht wieder heranmachen?“, hofft Vesna.
Abgesehen davon, dass ich das nicht will: Das würde wohl auch nichts nützen. So dumm ist Weis nicht.
„Ich könnte als neue Jüngerin gehen“, überlegt Vesna.
Ich schüttle den Kopf. „Du warst schon mit im Zentrum. Er hat dich gesehen. Sein Personengedächtnis ist ausgezeichnet, sagt man.“
„Und was ist mit mir?“, fragt Carmen. „Ich bin eine Tochter aus gutem Haus auf der Suche. Ich denke, ich brauche dringend einen Guru.“
„Das ist zu gefährlich“, murmle ich. „Wir wissen nicht, wie viel Weis mit dem Verschwinden von Franziska Dasch zu tun hat.“ Leichenteile scheint man allerdings noch immer nicht gefunden zu haben, sonst hätte es das „Blatt“ mit einiger Sicherheit erfahren. So ein Spurensicherungstrupp ist groß und einer hat immer einen Freund, der einen Freund hat, der … – Leichenteile in der Größe durchschnittlicher Kieselsteine. Fleisch, auch Knochen, sind viel weicher als Asphalt. Ob da überhaupt was bleibt?
„Es interessiert mich. Und ich wollte schon immer wissen, wie so ein Guru arbeitet“, bettelt Carmen.
„Du glaubst Guru?“, fragt Vesna.
„Nur wenn er etwas Vernünftiges sagt. Ich werde zuhören. Und es euch erzählen.“
Ich schüttle den Kopf. „Er will, dass du erzählst. Und wenn du Pech hast, dann sagt er gar nichts.“
Carmen sieht erstaunt drein. „So wie dieser Zerwolf?“
Vesna: „Ganz anders. Er verlangt dafür viel Geld.“
„Wenn du allein in der Nacht im Weis.Zentrum warst, dann kann ich ja wohl tagsüber seine Jüngerin geben, oder? Geld … Ich zahle, wenn meine Mutter von der Kur zurückkommt. Momentan gibt es ein kleines Problem mit meinem Girokonto …“, sagt Carmen und sieht mich bittend an.
„Geld können wir vorschießen“, sagt Vesna.
Carmens Idee klingt gar nicht so übel. Da kann wenig passieren. Franziska Dasch ist wohl nicht verschwunden, weil sie Weis’ Jüngerin war, sondern weil sie zu viel gesehen hat.
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