Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
Knallharte Fernsehrealität. Die Frau mit den langen blonden Haaren rennt einen blauen Gang entlang, sie zieht die blaue Waffe. Sie ist der Lösung nahe. Wahrscheinlich liegt sie gleich hinter der bläulichen Tür. Ich sehe auf die Uhr. Gleich ist die Folge aus. Wie angenehm, zu wissen, dass sich in den nächsten zwei Minuten alles klärt.
Oskar ist überraschend für die nächsten zwei, drei Tage zu seiner Partnerkanzlei nach Frankfurt geflogen. Er konnte mich telefonisch nicht erreichen. Ich hatte mein Mobiltelefon noch immer auf lautlos gestellt. Oskar hat mir einen kurzen Brief geschrieben und auf meinen Laptop gelegt. Ich hätte gerne mit ihm besprochen, wie ich mit dem, was ich über den Anwalt Klein weiß, umgehen soll. Reicht es wirklich, wenn er die Frauen dazu bringt, die Anzeige zurückzuziehen? Wenn er den Zivilprozess abbläst? Geht es nicht eigentlich um etwas anderes? Nämlich um Weis, der alles dafür zu tun scheint, dass Zerwolf in ein schlechtes Licht kommt? Ich fahre den Laptop hoch, klicke mich im Netz wahllos durch die Seiten, lande bei der Wettervorhersage und ärgere mich, dass für die nächsten Tage eine Kaltfront droht.
Ich öffne die Homepage von Zerwolf. Die Sache mit „Leben und leben lassen“ geht mir nicht aus dem Sinn. Was ist los? Die Botschaft auf Seite eins ist verschwunden, dafür steht eine neue da:
„Man lebt. Man hat gelebt. Man ist tot.“
Bedrückend. Endgültig. Unausweichlich. So als ob es egal wäre, dass man lebt, denn irgendwann habe man gelebt und das war es dann jedenfalls. Ist das Leben sinnlos? Ich sollte zu ihm fahren, ihm Fragen stellen und warten, ob eine Antwort kommt. Ich könnte ihm vom Anwalt erzählen und von dem, was Weis inszeniert hat. Will ich Terrorfahndern in die Arme laufen? Oder, kaum besser, irgendwelchen Journalistenkollegen, die darauf lauern, dass der Einsiedler mit einer Maschinenpistole im Arm, die Mütze tief in die Stirn gezogen, das Haus verlässt, um auf einen Lipizzaner oder ein ähnliches Nationaldenkmal zu schießen? Und wenn ich ihm eine E-Mail schicke: weiß ich, wer sie liest? Genau betrachtet sagt Zerwolf etwas Selbstverständliches. Man lebt. Irgendwann ist das Leben Vergangenheit. Und dann ist man tot. Trockenes Statement eines Existenzialisten. Er glaubt nicht an ein Leben danach. Glaube ich daran? Selbst wenn es einen Gott gibt: warum sollte er Interesse daran haben, dass jeder von uns unendlich lange durch das Universum spukt? Gismo schläft tief und fest, ihr Gesicht hat sie in meinen Oberschenkel gegraben. Sie mag es, wenn ich neben ihr auf dem Sofa vor dem Fernseher sitze. Ist es nicht das, worum es geht? Nämlich, zu leben. Jetzt. Ist es so wichtig, was nachher sein wird? Ich lege den Kopf meiner Katze vorsichtig auf das orangerote Kissen und stehe auf. Sie seufzt im Schlaf, ihre Schnurrbarthaare vibrieren. Ich schleiche in die Küche und bin mit einem Mal hungrig. Was ist besser als Essen, um allzu existenzielle Gedanken zu vertreiben?
Ich öffne den Kühlschrank und weiß, womit ich mir eine Freude machen kann.
Zucchini-Ingwer-Creme mit Seezunge.
Ich lege die vakuumierte gefrorene Seezunge in eiskaltes Wasser, der beste Trick, um sie schnell und schonend aufzutauen. Die Kälte zieht nach außen, es bildet sich eine Eisschicht, der Fisch im Innern des Vakuumsäckchens bleibt dadurch so kalt, wie er sein soll, ist aber nicht mehr gefroren. Zehn Minuten. Länger dauert dieser Prozess bei einem dünnen Fischfilet nicht.
Es ist beinahe so, als wäre ich wieder daheim in meiner Wohnung. Früher habe ich häufig in der Nacht einfach für mich allein gekocht. Ob Carmen schon Neues weiß? Wir müssen ihr erzählen, was wir heute herausgefunden haben. Der Streit im Weingarten. Es hat auf mich so gewirkt, als hätte Weis Franziskas Mann im Verdacht. Und Franziskas Mann Weis. Und wenn es genau so wirken sollte? War tatsächlich noch jemand im Weingarten oder hat sich Vesna getäuscht? Sie täuscht sich selten. Ich schneide Zwiebel und Knoblauch, schäle ein großes Stück Ingwer, schneide es so fein wie möglich und brate alles in Olivenöl an.
Der Anwalt vermutet, dass Zerwolf tatsächlich Frauen belästigt hat. Eine Schutzbehauptung? Als Entschuldigung für sein eigenes Verhalten? Zerwolf steht in gewissem Sinne außerhalb der Gesellschaft. Wie weit geht das? Heißt es, dass er alle für unser Zusammenleben geltenden Regeln nicht mehr akzeptiert?
Zucchini in grobe Würfel schneiden, mitrösten. Mit einem Spritzer
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