Leben macht Sinn
»Wohlstandsneurosen« umzugehen und entschied sich, an die Front der Not in ein Kriegsgebiet zu gehen, um traumatisierten Menschen beizustehen. Es war eine Bauchentscheidung. Im Traum erschienen ihm Menschen, die in tiefer Not ihre Arme ausstreckten. Er fühlte sich angesprochen. Es war das Bild im Traum, das seine Seele brauchte, um diesen Schritt zu wagen. Ohne starke Gefühle gäbe es wohl kaum solch einen Sinneswandel. Hätte er nur Fallbeispiele gelesen, wäre er wahrscheinlich gefühlsmäßig nicht so »angesprungen«.
Der in Harvard lehrende Psychologe Howard Gardner nennt dieses Phänomen »Resonanz«. Der Impuls, seinen Gefühlen zu folgen und einen neuen Weg einzuschlagen, auch wenn er ungewiss oder riskant ist. Man nimmt die Ungewissheit in Kauf, weil die Stimme des Herzens unüberhörbar ruft: »Tu es!« Sie hat ihre eigene Logik. Wenn wir auf diese Emotionen hören, werden wir nicht zu Helden, Heiligen, oder zu Asketen, die auf Vergnügen und Lust verzichten, oder gar das eigene Leben aufs Spiel setzen. Vielmehr folgen wir einer Idee, weil sie sich stimmig anfühlt, weil sie eine neue Tür öffnet, die unseren Sinnhunger zu stillen vermag. Menschen, die zu radikalenVeränderungen imstande sind, zeigen uns eines: Sie haben ein entschiedenes Sinnbewusstsein. Allein der Mut zu großen Wendungen wäre nicht möglich ohne die Gewissheit, dass dabei Sinn freigesetzt wird. Sinn vertieft, erhöht, verfeinert, überschreitet unsere elementaren Bedürfnisse nach Essen, Schlaf, Lust. Wer beispielsweise einem Notleidenden hilft, erlebt mehr als elementare Befriedigung – eine, die die Selbstachtung erhöht.
Damit komme ich zurück zur Resonanz. Sie ist weit mächtiger als unser Intellekt. Man kann darüber diskutieren und referieren, wie sinnvoll und notwendig es sei, Menschen in Not zu helfen. Aber wenn die Emotionen nicht angesprochen und zum Schwingen gebracht werden, verpufft die Einsicht ziemlich rasch. Aber genau das Gegenteil passiert, wenn gefühlsmäßige Resonanz entsteht. Für eine Lehrerin waren es die Sätze von Max Frisch, als sie plötzlich wusste: »So will ich werden. Ich habe es satt, nur Wissen einzupauken, ich möchte auch so ehrlich und emotional differenziert, wie er es in seinen Büchern beschrieb, meine Schüler wahrnehmen. Ich kann nicht mehr so weitermachen wie gehabt.« Ein junges Mädchen erzählt: »Wenn ich in der Zeitung übers Rauchen gelesen habe, das hat mich völlig kalt gelassen und genervt. Aber als ich erlebte, wie mein Onkel am Lungenkrebs regelrecht krepierte, da hätte ich jeden Raucher ohrfeigen können.« Ein Trompeter erinnert sich: »Als der Musiklehrer mit einem Arm voller Instrumente in die Klasse kam und endlich die Trompete demonstrierte, ging plötzlich wie von selbst mein Arm nach oben, und ich hörte mich ganz aufgeregt rufen: ›Die will ich!‹« Für ihn war es, als hätte eine unsichtbare Hand ihn am Arm gepackt und sein Herz berührt. Gemeldet, gesagt, getan – daraus wurde dann eine lebenslange Liebesgeschichte.Oder eine meiner Klientinnen, die nach dem Sommerurlaub zum katholischen Glauben übergetreten war, und auf meine Frage nach ihrer überraschenden Bekehrung antwortete: »Vielleicht war es die lange Therapiepause, aber mein Herz hat mir eingeflüstert: ›Du musst was ändern. Geh zu den Katholiken, die passen viel besser zu dir als diese nüchternen Protestanten‹, vor allem wegen der Beichte und dem Weihrauch.«
Das Gemeinsame dieser Aussagen ließe sich auf einen Nenner bringen: »Es fühlt sich stimmig an«, oder schlicht »es ist richtig«. Egal wie lange man sinniert, gegrübelt hat, plötzlich spricht das Herz und man handelt.
Zu meiner eigenen Überraschung bin ich inzwischen überzeugt, dass Sinn und Sinneswandel in erster Linie die Folge emotionalen Empfindens sind, und erst in zweiter Linie eine Art des Denkens oder Formulierens von Gedanken. Emotionen haben sinnstiftende Kraft. Dafür sprechen namhafte Forscher, wie beispielsweise der Neurobiologe Gerhard Roth: »Das bewusste Ich ist nicht in der Lage, über Einsicht und Willensentschluss seine emotionalen Verhaltensstrukturen zu ändern; dies kann nur über emotional bewegende Interaktionen geschehen.« Und dafür sprechen auch die vielen Menschen, die plötzlich ihre Sensibilität oder Offenheit entdecken und Zusammenhänge und Antworten auf Fragen des Wohins, des Wozus intuitiv wissen.
Hier liegt auch der Grund, weshalb Menschen resistent gegen kognitiv orientierte Therapien
Weitere Kostenlose Bücher