Leben macht Sinn
möglich ist. Das Zusammensein mit der Familie und den Freunden wird wichtiger als oberflächliches Sehen und Gesehenwerden. Man begreift, was Endlichkeit bedeutet. Die Zeit des NOCH beginnt. Noch lebe ich, noch habe ich Energie und Kraft, noch sind nicht alle Türen zu, noch gibt es Glück. Aber wie lange noch? Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass alles so weitergeht wie bisher. Man weiß, dass die Zeit einen dorthin trägt, wo aus diesem »Noch-Glück« ein »Nie mehr« werden wird. Um diese Gedanken und Erfahrungen auszuhalten, entwickeln ältere Menschen selbst- und selbstwertdienliche Haltungen und Einstellungen, die ihnen helfen, die Entmutigung zu besiegen, die Realität zu akzeptieren, sie zu mildern, oder ihr etwas entgegenzusetzen.
Wenn ich die Äußerungen älterer Menschen aus meiner Praxis zusammenfasse, so geht es im Kern immer um die Wahrung eines selbstwertdienlichen Selbstbildes – letztlich um die eigene Würde. Hier einige Beispiele: »Ich bin stolz, dass ich noch so viel jünger, fitter und unternehmungslustiger bin als die anderen.« »Immerhin gehe ich jeden Tag schwimmen, lese noch viel und kann meinen Garten noch in Ordnung halten.« »Eigentlich bin ich noch ganz gesund.« »Wenn ich mich vergleiche, dann geht’s mir viel besser.« »Es könnte mit meinen Augen noch viel schlechter sein.« »Jedenfalls falle ich meinen Kindern nicht zur Last.« »Mich wird keiner klagen hören.«
Es gibt kaum eine Wegstrecke, die mehr Mut zur Hoffnung braucht als das Alter. Die Anstrengung, sich trotz aller Beeinträchtigungen dennoch dem Hoffnungsvollen zu öffnen, braucht nicht nur Wissen um die Kostbarkeit der Lebenszeit. Sie braucht auch Versöhnlichkeit mit sichselbst, mit den anderen und mit dem eigenen Lebensweg. Versöhnlichkeit ist ein Geschenk, das in uns darauf wartet, geöffnet zu werden. Der Hunger nach Frieden und Ruhe, der im Alter wächst, macht den Weg frei, der zur Versöhnung führt. Aber man braucht auch die anderen, die einem ihre Hände reichen. Deswegen halte ich den Trost für eine der wichtigsten Sinningredienzien. Je älter Menschen werden, desto mehr benötigen sie Trost für all die erlittenen, unausweichlichen Verletzungen, Verluste, Abschiede und die damit verbundenen Sinnlosigkeitsgefühle. Trost hilft, eine andere Dimension der Versöhnlichkeit zu entdecken, die über den Anspruch auf Gerechtigkeit hinausgeht. Im erfahrenen Trost zeigt sich ein Geschenk der Gegenwart, ein Ausdruck der Liebe, der die alte Seele wärmt. Im Alter braucht man viele Hände, die einen halten.
Sinn ist Glück
Glück ist nahe am Lebenssinn, denn was wäre Lebenssinn ohne Glück? In der Tat, bei der Suche nach Sinn geht es immer auch um das Glück. Einer der Hauptgründe, nach Sinn zu suchen, ist letztlich die Sehnsucht nach Glück. Der Wunsch, lebendig zu sein und das Lebendige zu lieben, ist es, der uns bis zum letzten Atemzug begleitet. Erfreulicherweise sind wir von der Evolution her so geschaffen, dass wir auch schwere Sinnkrisen, Verluste und Einschränkungen seelisch überleben können. Die Suche nach Glück ist nicht ausrottbar, trotz Leid, Depression und Anfechtung und trotz der Erkenntnis, dass die Suche nach Glück eine der Hauptquellen für Unglück ist. Dennoch rangiert das Glück bei den meisten als oberstes Lebensziel. Vielleicht gelingt es uns durch unser Bewusstsein, und die Gabe, es einzuladen und zu reflektieren, ihm noch einige Quäntchen »Honig« mehr abzugewinnen. Menschen sind zutiefst Glückssucher und schließlich ist das Glück auch das Wertvollste, was wir miteinander teilen: Nähe, Liebe, Zuwendung, Verständnis.
Glück stimuliert das Selbstgefühl und bringt die Menschen zu sich selbst zurück. Wenn wir glücklich sind,»können wir wollen«, sagt der Zukunftsforscher Matthias Horx, denn dann erleben wir das Ineinander des Denkens, Fühlens und Wollens in einem einzigartigen Fließen. Und das führt zur Selbstüberschreitung und Selbsterweiterung, ohne die Sinn sich nicht einstellt. Glück kann nicht verfolgt werden, es erfolgt. Das ist längst zum geflügelten Wort geworden. Es bezeichnet treffend das Flüchtige, Unaussprechliche, Nicht-Machbare, Grenzüberschreitende des Glücks, das als Nebeneffekt der Hingabe eintritt an etwas, das größer ist als wir selbst. Das unterscheidet das sinnstiftende Glück vom euphorischen »Gut-drauf-Sein«, wenn man »einen drauf macht«, das so merkwürdig folgenlos bleibt.
Wirklich substanzielles Glück kann nur blühen
Weitere Kostenlose Bücher