Leben macht Sinn
vollzieht sich dieser Prozess allmählich, bei den anderen eher wie eine Erschütterung mit Nachbeben. Alte Identitäten, Prioritäten, Rollen müssen aufgegeben werden, damit sich neuer Sinn freisetzen kann. Oft wird man gezwungen, sich vom Vertrauten zu lösen. Solche Erschütterungen lassen keine Wahl. Wegschauen nützt nichts mehr, denn diese Krise führt direkt ins Zentrum: Wie finde ich meine eigene Stimme? Meine eigene Lebensmelodie?
Viele empfinden deshalb das frühe Alter als angenehmste Phase ihres Lebens, weil nun endlich bisher vernachlässigte geistige und emotionale Interessen und Fähigkeiten gepflegt und entfaltet werden können. Noch ist es möglich, sein Selbst zu erweitern, Prägnanz, Souveränität, Weisheit und Kreativität zu entwickeln. Deswegensprechen auch viele vom Noch-Glück. Die Illusion körperlicher Unversehrtheit löst sich auf, das Wissen um Krankheit, Schmerzen und körperliche Begrenzungen rückt näher und stellt die Sicherheit im existentiellen Sinn in Frage.
Im höheren Alter wird es immer schwieriger, neue Sinnorientierungen aufzubauen, weil man weiß, dass die Zeit begrenzt ist, Neuanfänge zu wagen, neue Ziele anzustreben, neue Gewohnheiten einzuüben oder Neuland zu entdecken. Die Tage der Schaffenslust sind gezählt, jetzt zählt »Carpe diem«. Der Blick in die Zukunft verengt sich. Wie wird es sein, wenn nur noch wenig geht? »Ich fahre langsamer, ich esse langsamer, ich sehe schlechter, aber ich wehre mich gegen das Dumme, da nehme ich kein Blatt mehr vor den Mund. Noch schmeckt mir alles, noch rieche ich; aber nichts ist mehr selbstverständlich.« So die Beschreibung eines 84-Jährigen, der auf die Frage, was Glück für ihn bedeute, antwortete: »Glück – das ist immer der Augenblick – jetzt.«
Das Alter ist das Wegstück einer neuen Wahrnehmung. Vielleicht ist die nachlassende Funktionstüchtigkeit der Sinne eine Art Rückzug, der dazu dient, den Geist von den Belangen der weiteren Umwelt freizumachen und einen Raum zu schaffen für das Auftauchen anderer Bilder, neuer Intensitäten und überraschender Geistesblitze. Auch wenn wir es mehr ahnen als wissen, so hat die Wahrnehmung im Alter ihren eigenen Glanz. Vergleicht man sie mit dem Verkümmern eines Muskels, so weiß man, dass sich der Antagonist stärker ausprägt. Verliert man das Augenlicht, hört man besser, verliert man das Hörvermögen, sieht man schärfer. Auch wenn der Raum kleiner wird, das körperliche Selbst und die private noch zugängliche Welt stärker in den Vordergrund treten, fügen sich all das Erlebte, die Zerbrechlichkeit der Existenz, dieVergänglichkeit aller Dinge zu einer weiten inneren Landschaft, die nicht mehr von Kämpfen der Macht, des Siegens, der Selbstbestätigung durchzogen ist, sondern dem Leben eine neue Dimension hinzufügt. Der persönliche Sinn intensiviert sich: »Nur noch das Wichtige wichtig nehmen«, »im Inneren Ordnung schaffen«, »für alles dankbar sein«, »anders als früher genießen«, »nicht mehr vom Haben-Wollen getrieben sein«. Er ist mehr auf Versöhnlichkeit und Durchlässigkeit angelegt. Der Theologe Fulbert Steffensky drückt es prägnant aus: »Die Last der Welt liegt nicht auf unseren Schultern. Wir können in Freiheit Fragment sein. Das gibt unserem Leben Spiel, dass wir selbst nicht alles sein müssen.« Wer nichts mehr für sich selbst erwartet und beweisen muss, erhält viel: Sinn, der dem gegeben wird, der ihn nicht mehr einfordert.
Diese Gedanken legen die Antwort nahe, weshalb so viele Ältere trotz der Augenfälligkeit zunehmender Beeinträchtigungen zufrieden sind. Die neue innere Sinnlandschaft, die Wahrnehmung, die mehr vom Hunger nach Frieden gespeist ist; sie ebnet den Weg zur Zustimmung und Versöhnlichkeit. Es ist so und nicht anders. Lebenserfahrung heilt von zu strengen Anforderungen an sich selbst. Man ist nicht mehr allverantwortlich und darf sich aus dem Schraubstock der Zuständigkeiten entlassen.
Tatsächlich setzen im Alter Prozesse ein, die zur Relativierung und Herabsetzung von Maßstäben der Selbstbeurteilung sowie von Lebensansprüchen führen. Die persönlichen Sinnprioritäten verschieben sich; Familie, Gesundheit und Zufriedenheit werden wichtiger; der persönliche Ehrgeiz und die Lust zu erobern schwinden; das Getriebensein wird seltener, weil der Blick nun eher zurückgeht, auf das, was man erschafft und erbaut hat. Manmuss nicht mehr im Rennen sein. Jetzt gilt es, jeden Moment auszuschöpfen, solange es noch
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