Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
zu uns: ›Wir kommen bestimmt wieder zurück, wir gehen nur, um zu arbeiten.‹ Sie stiegen in die Tram, die Koffer und alles andere wurden in Ruhe aufgeladen. Es ging alles so typisch holländisch zu, so fein organisiert.« Auf dem Hauptbahnhof war meist auch Hauptkommissar Tulp während der Abfahrten anwesend. Die Amsterdamer Polizisten sollten sehen, dass ihr Chef nicht am Schreibtisch saß, wenn es ernst wurde, und seine Männer nicht allein ließ bei ihrer schweren Arbeit. Das kam gut an.
Am 29. Juli sprach Radio Oranje, der Sender der holländischen Regierung im Londoner Exil, im Zusammenhang mit den Judenmorden in Polen erstmals von »Gaskammern«. Der Jüdische Rat in Amsterdam wies diese Behauptung als »unglaubhafte und antideutsche Feindpropaganda« zurück. Er stand damit nicht alleine. Für Juden wie Nichtjuden, innerhalb und außerhalb des nationalsozialistischen Machtbereichs, lag die fabrikmäßige Tötung von Menschen, – lange, nachdem sie Wirklichkeit war –, außerhalb ihrer Vorstellungskraft.
Während in der zweiten Julihälfte die ersten Judentransporte Amsterdam verließen, ging das Programm in der Joodse Schouwburg mit den jüdischen Schauspielern, Sängern und Musikern weiter über die Bühne. Für eine der Revuen in diesen Wochen verfasste Herbert Nelson, der zur Revue-Musik seines berühmten Vaters die Texte schrieb, das »Chanson von der großen Straße«:
Die Häuser stehen da in Reih’ und Glied
und blicken auf die große Straße stumm hinab
und hör’n das freche, lärmend-laute Lied.
Und dieses Lied reißt Tag und Nacht nicht ab …
Es tut sich was
in der großen Straße.
Es tut sich was
von früh bis spät.
Es tut sich was,
aber nicht zum Spaße.
Und das ist das,
worum es geht.
Denn das ist das Leben
voll Bangen und Beben,
und jeder Moment
ist hundert Prozent.
Es tut sich was
in der großen Straße.
Und was sich tut,
tut sich mit uns.
IX
Pellkartoffeln und Rohkost – Die Flüsterkarte – »Durchgangslager Schouwburg« – Raubzug Hausratstelle – Vom Wohnzimmer ins Lager – Rettung für 80 Kinder – Ohnmächtige Wut – Zufriedene Mörder
August bis Dezember 1942
Mit jedem Jahr Besatzung stieg die Anzahl der Eingriffe, die alltägliche Dinge rationierten, um die in kriegerischen Zeiten knapper werdenden Lebensmittel und Grundstoffe weiterhin möglichst gerecht zu verteilen. Das bedeutete für die Amsterdamer: Immer länger und differenzierter wurde die Liste der Güter, die nur noch auf Bezugsschein erhältlich waren.
Es wuchs die Wut auf diese Scheine, die »Bons«, für die man ständig mehr Lebenszeit einplanen musste. Jede Woche aufs Neue standen Frauen und Männer im Distributionsbüro der Stadt Amsterdam in der Schlange, zeigten ihre Stammkarte, um pro Kopf für ihre Familien die neuen Bons zu erhalten: für Kaffee und Milch, Brot und Fett, Käse, Fisch und Fleisch, Seife und Zahnpasta, Waschpulver und Haferflocken, Schuhe, Unterhosen, Mäntel, Blusen und noch so vieles mehr. Jeder Bon hatte eine aufgedruckte Nummer. Niemand sollte Gutscheine horten. Zuhause wurde die tägliche Zeitung studiert oder der wöchentliche Distributions-Führer, wo alle Nummern mit den jeweiligen Verfallsdaten penibel aufgeführt waren. Außerdem mussten bei vielen Bons unterschiedliche Mengenzuteilungen beachtet werden, ob für Kranke und Alte, Männer oder Frauen, Säuglinge oder Kinder.
Die Geschäftsleute saßen jeden Abend um den Tisch und klebten die erhaltenen Gutscheine in Vordrucke mit Rubriken, die sie zurück an die Verteilungsstelle schickten. Für diesen Wert erhielten sie neue Ware. Auch wenn es keiner zugeben wollte: Mit diesem komplizierten System, das sich nicht die Besatzer, sondern die Niederländer ausgedacht und in Ansätzen schon im Oktober 1939 eingeführt hatten – als erstmals der Zucker »op bon« kam –, wurde auch im dritten Besatzungssommer eine gerechte und ausreichende Verteilung der Güter erreicht. Und die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Amsterdamer Verteilungsbüro, inzwischen von 30 auf knapp 500 aufgestockt, waren alle Niederländer.
Engpässe blieben nicht aus. Im Juli und August 1942 wurde manches Gemüse knapp. Da hieß es, statt Salat Kohl essen. Aber an Kartoffeln war kein Mangel. Bisher musste niemand in den Niederlanden hungern. Auch wenn subjektiv vielen Amsterdamern der Magen knurrte: Objektiv förderte zwischen 1939 und 1942 der Rückgang von 3000 auf 2700 Kalorien täglich – vor allem eine Folge der
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