Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
müssten »Aufräumarbeit in leeren Städten des verwüsteten Ostens leisten«. Und er hatte drohend hinzugefügt »Ihr Schicksal wird hart sein.« Schlagartig brachen alle Hoffnungen ein. »Der verwüstete Osten« war nur noch abschreckend. Die Bereitschaft, sich diesem »harten Schicksal« freiwillig auszuliefern, schrumpfte auf ein Minimum. Die Wohnung wurde zum Schutzraum, den man nicht verlassen wollte.
Am Abend des 3. August erschienen nur rund 450 Amsterdamer Juden mit Rucksäcken und Koffern in der Joodse Schouwburg. Die Besatzer hatten für diesen Abend – und die weiteren – doppelt so viele in das ehemalige Theater befohlen. Zwei Tage später folgten mit dem nächsten Schub nicht viel mehr als ein Dutzend »reisewilliger« Juden dem Befehl der Besatzer, und so beschließen diese, mit brutaler Gewalt ihren Willen für alle sichtbar durchzusetzen.
6. August – Wohnungstüren sind keine Hindernisse, weder für die deutschen »Grünen«, noch für die »Schwarzen« vom Schalkhaarder Polizeibataillon. Morgens um elf Uhr fahren die Polizeiwagen am Daniel Willinkplein (heute Victorieplein) mit quietschenden Bremsen vor. Polizisten sperren im Laufschritt das geräumige Gebiet zwischen dem Platz am Wolkenkratzer und der Scheldestraat ab. Auf der Straße greifen sie jeden, der den gelben Stern trägt. Andere dringen laut rufend in die Häuser ein, das Gewehr über der Schulter: »Wohnen hier Juden?« Wer nicht blitzschnell öffnet, dem wird die Tür eingetreten. Dann heißt es »schnell, schnell, raus!«. Alle werden auf bereitstehende Lastwagen gestoßen und in die Joodse Schouwburg oder in den Innenhof der ZjA verfrachtet. Als um 23 Uhr die Razzia vorbei ist, sind etwa 2200 Juden aus Amsterdam Zuid in den Händen der deutschen Besatzer.
Doch was als Drohung und Einschüchterung gedacht war, zeigt keine Wirkung. Nach dem nächsten Aufruf erscheinen am Abend des 9. August gerade mal 68 Juden reisefertig in der Schouwburg. Wütend streifen deutsche Polizisten und niederländische Kollegen vom Polizeibataillon durch die Gegend zwischen Beethoven- und Rubensstraat und führen willkürlich 230 Juden ab. Am Ende des August 1942 bilanzieren die Besatzer 6265 Juden, die in die Züge nach Westerbork gezwungen wurden und von dort Richtung Osten weiterfuhren.
Wie es im Herbst 1942 im Durchgangslager Joodse Schouwburg zuging, darüber haben sich nur wenige Augenzeugenberichte von Juden erhalten. Denn für weit über neunzig Prozent der Menschen, die – ihrer Freiheit beraubt – im Jüdischen Theater eingeliefert wurden oder arbeiteten, begann hier die Reise in den Tod. Zu den wenigen, die überlebten, gehört Henriette Davids. Wie alle ehemaligen jüdischen Künstler der Schouwburg half sie jetzt als Mitarbeiterin des Jüdischen Rates, ihren Glaubensgenossen den traurigen Aufenthalt zu erleichtern. Im September 1942 gelang es ihr und ihrem Mann unterzutauchen.
In ihren Erinnerungen erzählt sie von Verzweifelten, deren Tränen sie nicht teilen durfte, denn das hatten die Deutschen dem jüdischen Personal streng verboten. Da waren junge Leute, die das Ganze wie ein Abenteuer aufnahmen. Henriette Davids hörte Jungen und Mädchen, die mit ihrer Familie telefonierten: »Wir haben es hier gut, macht Euch mal keine Sorgen! Wir kommen zurück!« Im Theatersaal saßen Familien, deren Kinder unbeschwert zwischen den Erwachsenen wuselten.
Eine Zeugin, die als junges Mädchen von einer Nachbarwohnung aus in den kleinen Hof hinter der Schouwburg blicken konnte, berichtet von der teilweise lockeren Atmosphäre der ersten Wochen. Die Eingeschlossenen sprachen über die Mauer hinweg mit Familienangehörigen: »Ich hatte ein altes Koffergrammofon auf der Fensterbank stehen und legte Platten auf, darüber freuten sie sich sehr.« Silvia Grohs, die Star-Sängerin im Ensemble der Joodse Schouwburg, die sich wie Henriette Davids im leergeräumten Theatersaal um die Ankommenden kümmert, erzählt vom Lebenswillen der Gejagten: »Auch Bonnie Sterkenberg war unter den Opfern, meine Friseuse, und ihr Mann Georg. Sie begrüßten mich mit einem breiten Lächeln.« Bonnie war schwanger: »Wir werden zurück sein, ehe unser Kind zur Welt kommt … Wo sie uns auch hinschicken, wir werden uns nützlich machen … Ergeben stiegen sie auf die Lastwagen. Ich habe sie nie wiedergesehen.«
Mirjam Levie, die Sekretärin und Dolmetscherin beim Jüdischen Rat, wurde nach der großen Razzia vom 6. August nachts in die Schouwburg gerufen. Sie tippte
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