Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
davon ausgehen, dass die von Eichmann geforderte Deportations-Quote von 40 000 niederländischen Juden bis zum Jahresende problemlos erreicht würde. Seit September nutzte er die Joodse Schouwburg deshalb nicht mehr als Durchgangslager mit kurzem Aufenthalt, sondern als Menschen-Reservoir. Nicht nach vorgegebenem Schema, sondern je nach Bedarf ließ er am Amsterdamer Hauptbahnhof die Züge zum Lager Westerbork, das die Deportierten kaum noch fassen konnte, füllen. Das hatte Folgen für die Amsterdamer Juden, die allnächtlich aufgegriffen und in das ehemalige Theater in der Plantage Middenlaan gebracht wurden.
Für Wochen blieben die Verhafteten im Herbst 1942 in der Schouwburg eingepfercht, bevor sie zum Hauptbahnhof aufbrechen mussten. Einen Besucher erinnerte die Situation »an Neapel, als dort die Pest herrschte«; der Gestank war unerträglich. Die meisten Menschen saßen wie erstarrt im großen Saal, auf den Treppen, den Balkonen, den Logen, um sich ihre wenigen Habseligkeiten. Manche drehten wie aufgezogen ihre Runden durch das Gebäude. Wer Glück hatte, schlief nachts auf einer abgenutzten Matratze. Todesangst hing in der Luft und der Schweiß der Verzweiflung. Dazwischen verteilten die Mitarbeiter vom Jüdischen Rat Essen und die kärglichen Medikamente. Immer wieder wurden die beiden jüdischen Ärzte zu Menschen gerufen, die versucht hatten, sich mitten in diesem Chaos das Leben zu nehmen.
Die Situation spitzte sich so zu, dass die Besatzer im Oktober dem Drängen von Walter Süskind, Mitglied im Jüdischen Rat, der den gesamten Ablauf in der Schouwburg managte, nachgaben. Direkt gegenüber vom Theater befand sich eine etablierte jüdische Kinderkrippe. Sie durfte nun als Krippe für die Kinder eingerichtet werden, die mit ihren gefangenen Eltern in die Schouwburg kamen. Jetzt konnten wenigstens die Jüngsten die Zeit bis zu ihrem Transport unter der freundlichen Betreuung von jüdischen Kindergärtnerinnen in menschenwürdigeren Umständen verbringen als ihre Eltern.
Die Kinder. Im Juli 1942, als die Deportationen an der Amstel begannen, hatten sich spontan Studenten und Studentinnen der Universität Amsterdam, vor allem Naturwissenschaftler, zusammengetan, um wenigstens die jüdischen Kinder zu retten. Sie gewannen den einunddreißigjährigen Kinderarzt Ph. H. Fiedeldij Dop, der nahe dem Vondelpark am bürgerlichen Koninginneweg eine Praxis mit vielen jüdischen Patienten hatte. Der nichtjüdische Mediziner suchte die Eltern auf, um sie dafür zu gewinnen, ihre Kinder fremden Menschen anzuvertrauen. Sie würden für deren Sicherheit sorgen – bis die Eltern sie in besseren Zeiten wieder abholen könnten.
Durch persönliche Kontakte wurde ein Netzwerk zwischen den Amsterdamer Studenten und Studenten in Utrecht aufgebaut, das nichtjüdische Pflege-Eltern und materielle Unterstützung für die Amsterdamer Kinder organisierte – Kleidung, Geld und die lebenswichtigen Bezugsscheine. Am Tugelaweg im Amsterdamer Transvaalviertel richtete eine Familie ihre Wohnung als Zwischenstation ein. Dorthin brachten die Amsterdamer die Kinder, von denen sich ihre jüdischen Eltern getrennt hatten. Vom nahen Amstelbahnhof kamen die »Kuriere«, meist junge Studentinnen, um unverfänglich mit einem oder mehreren Kindern wieder nach Utrecht zurückzufahren.
Je jünger die Kinder waren, desto besser waren sie zu vermitteln. Bis zum Jahresende 1942 wurden rund achtzig jüdische Kinder durch die beiden Studentengruppen in Sicherheit gebracht. Unterstützt wurden die Studenten in ihrer Widerstandsarbeit durch Verwandte und Freunde, und der Erzbischof von Utrecht half mit regelmäßigen Geldzuschüssen. Hatten die jüdischen Eltern sich einmal zur Trennung entschlossen, waren sie erleichtert, ihre Kinder gut versorgt zu wissen und sagten beim Abschied meist optimistisch: »Wir kommen schon zurecht.«
Im November 1942 geht das Leben des sozialdemokratischen Politikers Monne de Miranda gewaltsam zu Ende. Im Juli war er in seiner Wohnung von den Deutschen verhaftet worden und seitdem im Gefängnis. Er durfte seiner Frau nicht schreiben, sie durfte ihren Mann nicht besuchen. De Miranda bekam keinen Rechtsbeistand, keinen Grund für seine Verhaftung genannt. Er vermutete politische Gründe, denn er war als Beigeordneter in den dreißiger Jahren im Gemeinderat stets als entschiedener Gegner von Hitler-Deutschland aufgetreten. Dass Monne de Miranda in einer »Mischehe« lebte, bewahrte ihn nicht davor, am 23. Oktober
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