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Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Titel: Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Beuys
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von Amsterdam ins Lager Amersfoort gebracht zu werden.
    Erstmals nach einem Vierteljahr bekam seine Frau einen Brief von ihm, noch aus der Amsterdamer Haftanstalt. Ihr Mann teilte ihr mit, dass er »auf Transport« gehen müsse – »dabei hatte ich mich so sehr auf unser Wiedersehen gefreut – und auf das höchste Gut: die Freiheit … Die ups und downs in den berechtigten Erwartungen sind am schwersten zu ertragen.« Er denke viel an seine Kinder, die jüngsten waren fünfzehn und vierzehn Jahre alt. De Miranda schloss seinen Brief: »Wie es weitergeht, weiß ich nicht! Solange es Tag war, habe ich gearbeitet; jetzt, wo der Abend fällt, bin ich, was das Schicksal auch bringen möge, vorbereitet. Mein Vertrauen in die große Sache ist unerschütterlich.«
    Das »Polizeiliche Durchgangslager Amersfort« war im August 1941 von den Besatzern nahe der Stadt Amersfoort errichtet worden. Eingeliefert wurden vor allem politische und jüdische Häftlinge, weil die normalen niederländischen Gefängnisse die rund 6000 von den Besatzern verhafteten »Unerwünschten« nicht mehr fassen konnten. Die Bewachung im Lager bestand um diese Zeit vorwiegend aus deutschen SS -Männern. Die jüdischen Gefangenen mussten ein gelbes Kennzeichen tragen.
    Der Siebenundsechzigjährige, nach fast vier Monaten Haft in keiner guten physischen Verfassung, musste lernen, mit holländischen Holzschuhen zu marschieren und den ungeduldigen Befehlen in deutscher Sprache zu folgen. Das gelang Monne de Miranda schon bei der »Empfangszeremonie« auf dem Lagerhof nicht so, wie es die Bewacher wünschten. Sie beschimpften ihn und schlugen ihn vor aller Augen mit Knüppeln zusammen. Dann ging es zum Lagerfriseur, der allen die Köpfe kahl schor.
    Monne de Miranda wurde dem »Judenkommando« zugeteilt, musste aus dem Lager marschieren und an einem Platz, wo ein Gefängnis entstehen sollte, Schubkarren voll schwerer Steine durch den zähen Sand karren. Dabei wurde ununterbrochen auf die jüdischen Gefangenen eingeschlagen, besonders aber auf den alten Sozialdemokraten aus Amsterdam. Schon am zweiten Tag war de Miranda so zerschlagen, dass er im Notfall-Saal von Sanitätern versorgt werden musste. Nach wenigen Tagen beorderte der Lagerarzt ihn zurück zum Steineschleppen.
    Doch de Mirandas Körper verweigert sich und bricht am 2. November unter erneuten Schlägen zusammen. Am Abend wird ein jüdischer Mitgefangener gezwungen, den ohnmächtigen, blutenden, mit Lehm beschmierten alten Mann in einer Schubkarre zum Appellplatz zu bringen und auf den regennassen Boden zu kippen. Salomon Rodrigues de Miranda, den alle nur »Monne« nannten, starb in der Nacht vom 2. auf den 3. November 1942 im Lager Amersfoort. »Todesursache Herzschwäche« schrieb der Lagerarzt in die Akten.
    Die »große Sache«, für die der gelernte Diamantschleifer und überzeugte Sozialdemokrat aus dem alten Judenviertel in Amsterdam fast fünf Jahrzehnte alle seine Kräfte einsetzte und am Ende mit dem Leben bezahlte, war die Vision einer gerechten, einer humanen Welt. Wer heute durch das weitläufige moderne Stadhuis am Waterlooplein geht, kommt auch an einem »De Miranda-Saal« vorbei, wo die Gemeinderäte tagen.
    Das Auf und Ab der Gemütslagen zu ertragen, war für alle, die unter den Besatzern leben mussten, eine schwierige Übung. Aber so blieb auch in depressiven Stunden und Tagen ein Quentchen Hoffnung: die Erfahrung, dass es jeder Zeit unerwartet Anlass zur Freude geben konnte. Am 5. November meldete der Nachrichtendienst der Amsterdamer Polizei eine auffallend fröhliche Stimmung. In den Straßenbahnen haben an diesem Tag wildfremde Menschen miteinander gelacht und gescherzt, ohne den Anlass beim Wort nennen zu müssen. Als einer der Mitfahrer in die Menge wirft, die Stimmung sei ja außergewöhnlich fröhlich, ruft ein anderer zurück: »Kein Wunder mein Herr, da gibt es gute Gründe.« Alle wussten, was er meinte: In Nordafrika hatten die englischen Truppen bei Al Alamein die Deutschen unter General Erwin Rommel besiegt. Damit wuchs die Hoffnung, dass endlich die Invasion der Alliierten an einer westlichen Küste Europas beginnen würde, um den Kontinent aus dem Würgegriff von Hitler-Deutschland zu befreien.
    Die November-Entwicklungen an der Front – in Nordafrika, aber auch im Osten, wo die Deutschen erfolglos um Stalingrad kämpften – waren auch gute Nachrichten für die Juden. Zur gleichen Zeit aber wiederholte sich der Alptraum, auf dessen Ende sie gehofft hatten.

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