Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Mädchen unterstützte, die ohne Eltern waren oder aus bettelarmen Elternhäusern kamen, geht auf das Jahr 1738 zurück.
Am 10. Februar 1943 standen verzweifelte Eltern, die von der Razzia erfahren hatten, mit Blick aufs Waisenhaus an der Amstel. Amsterdamer Polizisten, erstmals seit vier Monaten bei Juden-Transporten wieder im Einsatz, versperrten ihnen zusammen mit Männern der städtischen Feuerwehr den Weg zu ihren Kindern. Fort ging es mit Lastwagen vor den Augen der Eltern.
Unter der Überschrift »Das Los der Juden« schreibt die illegale Zeitung Vrij Nederland in ihrer Ausgabe vom 21. März 1943: »Dienstag, den 3. März dieses Jahres, fuhr aus dem Lager Westerbork wieder ein Zug mit 1200 jüdischen Opfern nach Deutschland. Dieser Transport unterschied sich von den vorherigen, weil darunter hundert Amsterdamer Waisenkinder, im Alter von zweieinhalb bis vierzehn Jahren, waren.« Selbst diejenigen, die im Untergrund mit höchstem Risiko Widerstand gegen die Besatzer leisteten, wussten im Frühjahr 1943 nicht, dass die Züge, die seit Juli 1942 jeden Dienstag über tausend Juden aus dem Lager Westerbork in Richtung Osten fuhren, Todeszüge ins Vernichtungslager Auschwitz waren.
Ende Februar, Anfang März wurden die Deportationszüge aus Westerbork – Güterzüge ohne Bänke, ohne Toiletten, ohne Fenster, nicht einmal Stroh auf dem Boden, mit Kindern und Erwachsenen, Gesunden und Kranken, vollgepfercht – erstmals umgeleitet. Wohin, das zeigen die Todeslisten der Jungen und Mädchen und ihrer Betreuer aus Amsterdams Waisenhäusern. Saartje Hamburger, 42 Jahre, leitete seit 1933 als Direktorin das Jungenwaisenhaus; Betsy Blom-Cohen, 46, war Kinderpflegerin im Mädchenwaisenhaus; Gottlieb Franck, 11 Jahre, geboren in Düsseldorf, war eins von vielen deutsch-jüdischen Emigrantenkindern im Jungenwaisenhaus; Lea Blekveld aus Amsterdam, 17 Jahre, hatte ein Zuhause im Mädchenwaisenhaus gefunden. Sie alle starben am 5. März 1943 in den Gaskammern des Vernichtungslagers Sobibor, das Anfang 1942 von den deutschen Besatzern im Südosten Polens errichtet worden war. Weitere Opfer folgten zügig, darunter Rebekka Frank, Direktorin des Mädchenwaisenhauses, die am 13. März 1943, 66 Jahre alt, in Sobibor ermordet wurde.
Wer nicht sofort in den Gaskammern starb und die ersten Monate in Sobibor überlebte, wurde weitertransportiert nach Auschwitz. Gerd Rolef, seine Zwillingsschwester Ilse und ihre ältere Schwester Edith, in Euskirchen geboren, wurden in den dreißiger Jahren in den beiden Amsterdamer Waisenhäusern untergebracht. Gerd starb mit 13 Jahren am 28. Mai 1943 in Sobibor; Ilse wurde 14, ihre Schwester Edith 17 Jahre alt, beide starben am 11. Februar 1944 in Auschwitz. Ein Foto mit den drei Geschwistern hat überlebt. Am Ende des Artikels über »Das Los der Juden« schreibt Vrij Nederland: »Wir finden keine Worte, um das Leid der Juden zu ermessen … Wir hoffen und beten, dass unser aller Mitgefühl immer brennender und stärker wird und dass es sich in der Tat zeigt.«
Eines der Amsterdamer Vorzeigeobjekte im Bereich der Versorgung alter und behinderter Menschen war das Joodse Invalide, 1937 feierlich eröffnet und durch den Besuch von Prinzessin Juliana geehrt. In dem eleganten hohen Bau aus Glas und Ziegelstein an der Ecke Weesperplein/Nieuwe Achtergracht wurden rund 400 mittellose jüdische Alte und Behinderte nicht bloß versorgt, sondern wie Menschen behandelt. Die private Stiftung ermöglichte modernste medizinische Betreuung und sinnvolle Beschäftigung der Heimbewohner.
Am 1. März war der inzwischen achtzehnjährige Jan Meijer mit dem Fahrrad auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz bei einem Maklerbüro in der Amsterdamer Innenstadt. An der Grachtenbrücke direkt vor dem Joodse Invalide am Weesperplein sieht er eine Absperrung und hält an. Zusammen mit anderen Fußgängern starrt der Junge wie gelähmt auf das, was keine zwei Meter entfernt vor seinen Augen abläuft: »… ich sah, wie die Patienten aus dem Joodse Invalide auf Lastwagen geladen werden. Mit ihrem Bett und allen Sachen werden die Kranken und Alten reihenweise aufgestellt und vom Pflegepersonal in die offenen Lastwagen getragen.« In diesem Augenblick wird Jan Meijer, der von der elterlichen Wohnung aus Razzien erlebt hatte und dessen Eltern bereit waren, jüdische Kinder aufzunehmen, schlagartig klar: »Die Menschen gehen nicht zu irgendeiner Arbeit, die gehen ihrem Tod entgegen. Denn diese Menschen können gar nicht arbeiten
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