Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
haben die Besatzer keine genauen Kenntnisse davon, aber es gibt Hinweise, dass im Untergrund aus Einzelaktionen ein Widerstandsgeflecht zusammenwächst. Mitte März hoffen die Besatzer, diese geheimen Aktivitäten entschieden zu schwächen. Sie erklären alle 500- und 1000-Guldenscheine für ungültig. Die Scheine können bis zum Monatsende gegen neue eingetauscht werden, wenn über die Herkunft der alten überzeugend Auskunft gegeben wird. Offiziell ist der Schwarzhandel das Ziel dieser Aktion. Tatsächlich soll der Umtausch illegale Gruppen treffen, die das Leben von Untergetauchten finanzieren. Nicht zuletzt junge Männer, die sich dem Arbeitseinsatz in Deutschland entziehen.
Es ist ein kalter, sonniger Morgen, als sich in einem ruhigen Hinterzimmer in der Leidsegracht 10 im Januar 1943 eine Handvoll Männer versammelt hat. Sie sind aus ganz Holland gekommen, haben in unterschiedlichen Abständen das Haus betreten und an der Türe ein Stichwort genannt oder eine Münze mit eingraviertem kleinen Kreuz vorgezeigt. Einzeln verlassen die Vertreter verschiedener illegaler Gruppen nach wenigen Stunden das schöne Grachtenhaus aus dem 17. Jahrhundert. Sie werden Kontakt halten und ihre Kräfte im Widerstand bündeln. Aus dieser ersten Amsterdamer Zusammenkunft wird sich das Nationaal Comité van Verzet (Nationales Widerstandskomitee) entwickeln.
Initiator des konspirativen Treffens im Haus seiner Schwiegermutter ist Walraven van Hall, schon als Junge nur »Wally« genannt: 1906 in einem prächtigen Haus an der Herengracht geboren; durch seine Mutter mit der Familie Boissevain verwandt. Der Bankier, der auch ein Kapitänspatent für große Fahrt besaß, hatte 1941 erfahren, dass die Familien der Seeleute, die auf »feindlichen« Schiffen fuhren, als die Deutschen das Land überfielen, und die nicht in die besetzten Niederlande zurückkehrten, dringend finanzielle Unterstützung brauchten. Wally van Hall nutzte seine beruflichen und sozialen Kontakte und organisierte im Untergrund einen »Seemannsfonds«. 1942 konnte der Fonds auf illegalen Wegen den vater- und ehemannslosen Familien rund 500 000 Gulden an Unterstützung zukommen lassen.
Als die Besatzer im März die 500- und 1000-Guldenscheine für wertlos erklärten, lagen über 200 000 Gulden in der »Seemannskasse«, in großen Scheinen. Wally van Hall und sein Bruder Gijs steckten sich je hundert 1000er in die Taschen, machten bei Freunden, bei vertrauenswürdigen Bankiers, Geschäftsleuten und Beamten die Runde und erklärten, warum sie dringend statt der großen kleine Scheine brauchten. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen, denn im Frühjahr 1943 hat sich die Stimmung gedreht. Mehr Menschen als zuvor waren bereit, den Widerstand im Untergrund gegen die Besatzer zu unterstützen oder innerhalb ihrer beruflichen Verantwortung Befehle der Besatzer zu sabotieren. Die Brüder van Hall bekamen nicht nur alle Scheine gewechselt. Sie gewannen zusätzliche 100 000 Gulden für den »Seemannsfonds« und neue Mitstreiter für ihre illegale Arbeit.
Am 25. März lassen die Mitglieder des Jüdischen Rates während einer Sitzung ins Protokoll schreiben: »Das Wegholen der Juden hat einen erschütternden Umfang angenommen; es gibt sowohl tagsüber wie nachts Aktionen.« Drei Tage später heißt es bei Mirjam Levie: »Tag und Nacht holt man die Menschen, dreimal wöchentlich geht ein Transport nach Westerbork, jeweils mit 500–700 Personen, einmal pro Woche nach Vught, etwa 300, aber das ist etwas ganz anderes.« Tatsächlich wurden auch die Insassen im Lager Vught im Laufe des Sommers über Westerbork in den tödlichen Osten deportiert.
Werfen wir mit Philip Mechanicus einen Blick in die Baracken von Westerbork. Der Journalist aus Amsterdam, 1889 im alten Judenviertel geboren, wurde im September 1942 verhaftet, weil er keinen Stern trug, und im November ins Lager Westerbork eingeliefert. Ab Mai 1943 schreibt er Tag für Tag eine Chronik des Lagers; nüchtern, ironisch, mitleidlos hat er sich selbst und seine Leidensgenossen betrachtet. Was er über die deportierten Juden notiert, die in der Nacht des 21. Juni 1943 aus Amsterdam im Lager Westerbork ankommen, können wir als Bild für die Zeit ab Jahresbeginn 1943 im Gedächtnis behalten: »In dicht gedrängten Trupps sind sie in die Baracken hineingetrieben worden: Drei, vier, manchmal fünf Personen in zwei Betten, mitsamt ihrem Gepäck. Die Betten sind drei Etagen hoch, durch schmale Gänge von höchstens
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