Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
… sie können nicht einmal laufen! … Ich war ratlos, ohnmächtig … Auf dem Rückweg vom Büro waren sie immer noch damit beschäftigt, Patienten aufzuladen.« Keiner der Heimbewohner entging den Mördern. Nur wenige der Pfleger und Ärzte konnten sich auf dem Dach verstecken. Wieder war das Vernichtungslager Sobibor die grausame Endstation.
Eine Woche vor der Räumung vom Joodse Invalide notiert Mirjam Levie nachts um halb eins: »Das ist kein Leben mehr, das ist die Hölle auf Erden. Meine Hände zittern so, dass ich kaum schreiben kann. Es wird zu schlimm. Das kann niemand mehr ertragen. Heute Abend geht wieder ein Transport … In der letzten Zeit kommt die WA , die als Hilfspolizei auftritt. Die sind schrecklich und treten gleich die Tür ein, wenn man nicht sofort öffnet, was natürlich passieren kann, weil sie oft mitten in der Nacht auftauchen.« Die »Freiwillige Hilfspolizei«, ein neues Jagd-Instrument der Besatzer, besteht aus Freiwilligen der nationalsozialistischen Wehrabteilungen und Männern der niederländischen SS . Gerade mal zehn Tage dauert die Ausbildung durch die deutsche Polizei. Die Hilfspolizei wird erstmals im Februar 1943 eingesetzt, und macht den Mangel an Professionalität durch besondere Gewalttätigkeit und Agressivität wett.
Was Mirjam Levie – und mit ihr alle Juden, die weiterhin in Amsterdam sind – erleben: Es gibt immer noch eine Steigerung des Schrecklichen und der Brutalität. Vor dieser Realität zerbröseln alle Gewissheiten, alle Hoffnungen; stürzen feste Lebenspfeiler ein, die bisher in allem Untergang standhielten.
Im Februar noch hatte die junge Frau das Gefühl, den Krieg überleben zu können. Nun erkennt Mirjam Levie, dass es ein Trugschluss war: »Die politischen Nachrichten sind zwar günstig, aber jetzt, da es sich dem Ende zuneigt, werden wir doch noch verlieren. Denn ich glaube nicht, dass wir es schaffen.« Sie hat nur noch »wahnsinnige Angst«, wenn abends in den Straßen Schritte näher kommen. Wo werden sie halten? Wo an der Türe klingeln? Wen mitnehmen? Mirjam Levie, die sich selbst als »nüchtern« und »tapfer« einschätzt und ihre Arbeit im Jüdischen Rat nicht aufgibt, um weiterhin anderen helfen zu können, ist Ende Februar 1943 »völlig fertig mit den Nerven«.
Am Sonntag, 21. Februar, wird in allen katholischen Kirchen und auf fast allen protestantischen Kanzeln ein Schreiben verlesen, in dem Bischöfe und Pastoren gegen die Politik der Besatzer protestieren: Sie verurteilen die Verfolgung der Juden und den Zwang zum Arbeitsdienst in Deutschland, Verhaftungen und Geiselerschießungen. Die geistlichen Führer rufen alle Niederländer auf, nicht mit den Besatzern zusammenzuarbeiten, zu solchen Verbrechen keine Hand zu leihen. Im Hinterhaus in der Prinsengracht 263 erfahren die Untergetauchten davon. Am 27. Februar zitiert Anne Frank aus dem Protest der Kirchen, und fügt hinzu: »Ob es helfen wird? Unsern Glaubensgenossen wohl nicht.«
So zynisch es klingt: Als sich die Vernichtung der Juden ohne unliebsame Störungen oder größere Unterbrechungen dem Ende zuneigt, haben die Besatzer freie Kapazitäten, nichtjüdische Gruppen der niederländischen Gesellschaft entschiedener als bisher in ihren Dienst zu zwingen. Seit 1941 werden im besetzten Gebiet ständig Männer zum Arbeitsdienst in Deutschland aufgerufen, Betriebe »durchgekämmt«, um Arbeiter für die Militär-Industrie abzustellen. Weil Deutschlands Männer zu Zehntausenden im Kriegseinsatz sterben und die Kämpfe an den vielen Fronten ständig Nachschub fordern, wird der Mangel an Arbeitskräften in der deutschen Wirtschaft immer dramatischer. Im Februar 1942 ergeht der Befehl an die deutsche Polizei und die niederländische Hilfspolizei: Razzia auf junge Männer zu machen, die zum Arbeitsdienst in Deutschland abtransportiert werden. Aber statt der geforderten 5000 Mann können im Februar gerade einmal 1200 eingefangen und dienstverpflichtet werden.
Der nächste Schlag soll die aufmüpfigen Studenten treffen. Mit dem 11. März fordern die Besatzer von allen Studenten, eine doppelte Loyalitätserklärung zu unterschreiben. Darin erklären sie erstens, dass sie sich aller Handlungen enthalten, die gegen das Deutsche Reich, die Wehrmacht oder niederländische Autoritäten gerichtet sind und die öffentliche Ordnung gefährden. Zweitens verpflichten sich die Studenten mit ihrer Unterschrift, nach ihrem Studium für ein Jahr zum Arbeitsdienst nach Deutschland zu gehen.
Noch
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