Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
einem halben Meter getrennt, nirgends ein Tisch, ein Stuhl oder eine Bank. Bis zu elfhundert Leute in einer Baracke ohne den geringsten Bewegungsspielraum, ohne Ablage für die Kleidung kreuz und quer durcheinander. Wie Ameisen laufen sie übereinander hinweg, aneinander vorbei, wie kleine unbedeutende Ameisen.«
Die Deportationsmaschinerie lief im Frühjahr 1943 auf Hochtouren, jeder in Amsterdam konnte es sehen. Ein Foto aus diesen Tagen zeigt ein Ehepaar von hinten, das eingehakt den Bürgersteig entlanggeht. Der Mann dreht ein klein wenig den Kopf nach links, wo in der Straßenmitte eine Straßenbahn vorbeifährt: in den offenen Türen der zwei Waggons deutsche Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag, die Juden auf ihrer Fahrt zum Bahnhof bewachen. Es mag den Passanten das Herz zerreißen, doch was können sie tun?
Seit Anfang 1943 zieht es die Amsterdamer mehr denn je ins Kino. Die Varieté-Theater locken das Publikum und die Zuschauer drängen in die Sportveranstaltungen. Beliebt sind die »Bunten Abende« oder »Bunten Mittage«, die der nationalsozialistisch gelenkte Rundfunk wie in alten Zeiten im Hotel Krasnapolsky organisiert. Am 9. Januar singt bei einer solchen Veranstaltung der fünfundzwanzigjährige Wim Ibo: »Mit frischem Mut ins Neue Jahr! / Mit Optimismus im Blut / Und mit Vertrauen in die Zukunft! / Kopf hoch! Es wird wieder gut!« Das war in alle Richtungen interpretierbar.
Wirklich lebendig allerdings ist die Stadt an der Amstel nicht mehr. Immer mehr macht sich der Mangel an Waren und Verkehrsmitteln bemerkbar. In der Kalverstraat, wo sich einst die Menschen drängten, sind fast alle Läden dicht, viele Türen mit Brettern vernagelt. Gibt ein Schaufenster den Blick frei, dann auf wenige kümmerliche Waren, meist »Ersatz«. Im Frühjahr 1943 sind überall Broschen aus Holz im Angebot; Goldschmiede und Juweliere haben schon lange nichts mehr zu tun, da die Besatzer alle Metalle eingefordert haben.
Am Rembrandtplein und anderen Plätzen stehen die bewaffneten Posten der Besatzer vor ihrem hölzernen Wachhäuschen. Stacheldrahtverhaue gehören zum Straßenbild, ebenso die Beton-Eingänge der ungeliebten Luftschutzbunker. Wenn Autos durch die leeren Straßen fahren, dann gehören sie meist der deutschen Wehrmacht. Die schweren Laster der Besatzer haben die Straßendecken zerstört, Material zum Ausbessern gibt es nicht. Amsterdam ist schmuddelig geworden, kaum etwas ist geblieben vom einstigen Glanz der Metropole. Die totale Verdunkelung muss weiterhin strikt eingehalten werden. Kein Wunder, dass der Schlager »Wenn am Leidseplein einst die Lichter wieder brennen« zu den Hits des Jahres zählt.
Die städtischen Straßenbahnbetriebe allerdings sind zu revolutionärem Handeln entschlossen: Auf den ersten Aufruf an Amsterdams Frauen im Dezember 1942, sich als Straßenbahnfahrerinnen ausbilden zu lassen, hatte es keine Reaktionen gegeben. Als eine weitere Werbeaktion Mitte März ebenfalls ohne Erfolg bleibt, wird Zwang eingesetzt. Mitte April müssen rund fünfzig junge Frauen, die in Amsterdamer Betrieben arbeiten, die Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin durchlaufen und zum Dienst in der Tram antreten.
Zum Besatzungsalltag gehören die Witze, mehr denn je. Ein Witz schafft Erleichterung im Vorübergehen, ist als Ventil für Wut und Ohnmacht schnell erzählt: »Was haben die niederländische Nationalflagge und ein NSB ler gemeinsam? Wir sehen sie beide gerne hängen.« Dass es auch Amsterdamer gibt, die in den Stunden der Verdunkelung den Mut zu ein wenig aktivem Widerstand haben, halten die Protokolle der Besatzer fest.
Mitte Januar 1943 wurde in Amsterdam nachts ein Feldwebel der Luftwaffe »niedergeschlagen und leicht verletzt«. Anfang März wurde wiederum ein Wehrmachtsangehöriger »in der Dunkelheit mit einem harten Gegenstand niedergeschlagen«. Für Rauter, den obersten Sicherheitschef, Anlass genug, am 31. März den Befehl an alle SS - und Polizeieinheiten zu wiederholen, »mit Anbruch der Dunkelheit nur zu Zweit« aufzutreten. Und fügt hinzu: »Unter ›zweit‹ verstehe ich nicht ein Mädchen sondern Männer.« Außerdem erwartet er, dass die Männer »sich zumindest wehren. Wir sind hier in Feindesland und haben starke Widerstandsgruppen uns gegenüberstehen.« Die letzte Bemerkung hatte einen sehr konkreten Anlass.
Fünf Tage zuvor, kurz vor Mitternacht, hat das Hauptrevier der Amsterdamer Polizei einen Anruf erhalten: Es brennt im Einwohnermeldeamt in der Plantage Kerklaan,
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