Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Mies Boissevain, ihre Zentrale hat. Von den fünf Kindern der Eheleute leben die Söhne Jan Karel, geboren 1921, und Gideon Willem, geboren 1922, noch bei ihnen. Im 17. Jahrhundert waren die Boissevains als hugenottische Flüchtlinge aus Frankreich gekommen und gehörten seitdem als erfolgreiche Kaufleute, Politiker, Wissenschaftler und Bankiers zur Elite der Amsterdamer Bürgerschaft. Mies Boissevain, aktiv in der Frauenbewegung, hatte sich in den dreißiger Jahren für jüdische Flüchtlinge engagiert und organisierte seit Beginn der Deportationen im Sommer 1942 Untertauch-Adressen für verfolgte Juden. Zur gleichen Zeit begannen »Janka« und »Gi«, die beiden Söhne, mit Gleichgesinnten Eisenbahngleise zu zerstören, die nach Westerbork führten.
Immer mehr war der Keller im Haus Corellistraat 6 zu einem konspirativen Hauptquartier geworden: mit Waffen und Sprengstoff, besonderen Telefonleitungen, Kleidungsstücken für Überfälle und den nötigen Utensilien, um Papiere und Ausweise zu fälschen. Ein weiterer Treffpunkt der CS -6 war das Elternhaus von Reina Prinsen Geerligs im Koninginneweg 121 nahe dem Vondelpark. Die einundzwanzigjährige Studentin, die Schriftstellerin werden wollte, gehörte zum inneren Kreis der Widerständler. Die CS -6-Mitglieder waren meist junge Leute, vor allem Studenten, Frauen und Männer, politisch links, zum Teil Kommunisten, die bei Reina auch zu Vorträgen über Marxismus zusammenkamen. Anfang 1943 war die Gruppe landesweit auf fünfzig bis siebzig Mitglieder gewachsen. Auf Vorschlag des Mediziners Gerrit Kastein hatten sie beschlossen, ihrem Widerstand eine radikale Richtung zu geben: prominente Niederländer, »Verräter«, die mit den Deutschen zusammenarbeiteten, zu liquidieren.
Es waren Studenten: Die Besatzer, entschlossen, Widerstand durch brutale Abschreckung im Keim zu ersticken, ließen am 6. Februar, dem Tag nach dem Anschlag auf General Seyffardt, in allen Universitätsstädten deutsche Polizisten Jagd auf Studenten machen. In Amsterdam wurden 183 junge Männer gegriffen und zusammen mit fast 400 Studenten aus dem ganzen Land ins KZ Vught gebracht. Es war erst am 13. Januar nahe bei ’s-Hertogenbusch errichtet worden, das einzige Lager im Westen Europas unter deutscher SS -Leitung. Als am 7. Februar auf das Ehepaar Reydon geschossen wurde, schickte Heinrich Himmler am 10. Februar von Hitlers Hauptquartier in der Wolfsschanze ein Fernschreiben an seinen Vertrauten in Den Haag, SS -Führer Hanns Albin Rauter. Himmler befiehlt, »in der schärfsten Form ohne jede Rücksicht durchzugreifen«. Mit den »Aktionen der letzten Tage« habe die »bewusste Sabotage der Gegner in den Niederlanden begonnen«. Man solle möglichst alle Studenten – »Plutokratensöhne« –, am besten mit den Vätern, verhaften. »In keiner Form« dürften »Rückzieher« gemacht werden: »Die Ausquartierung der Juden hat unentwegt weiterzulaufen.«
Was die Juden betraf, brauchte sich der Herr aller Konzentrationslager in Bezug auf die Niederlande keine Sorgen zu machen. Genau am 10. Februar 1943 ließen die deutschen Besatzer in Amsterdam überfallartig das jüdische Mädchenwaisenhaus in der Rapenburgerstraat 169/171 räumen und die jungen Bewohnerinnen abtransportieren. Nur wenige der achtzig Mädchen konnten durch den Garten hinter dem Haus entkommen. Mädchen-Waisen wurden seit 1762 von der jüdischen Gemeinde unterstützt, das Haus in der Rapenburgerstraat war 1861 gebaut worden.
Am gleichen Tag wie das Mädchenwaisenhaus wurde das Heim für jüdische Waisenjungen an der Amstel von deutscher Polizei umzingelt. Ab zum Transport hieß es für knapp hundert Jungen, aber schnell. Das Waisenhaus steht nicht mehr, aber ein wenig kann man seinen Spuren nachgehen, buchstäblich, im Herzen des jüdischen Amsterdam, wo auf den ersten Blick nichts mehr an die alten Zeiten erinnert.
Wer den modernen weißen Komplex am Waterlooplein umrundet – Stadhuis/Rathaus, Oper und Balletttheater (Muziektheater) –, der entdeckt, wenn er an der Amstelseite aufs Pflaster schaut, ein Band aus hellgrauer Keramik. Es sind, zu einem kleinen Teil, die Grundriss-Konturen des jüdischen Jungenwaisenhauses, das 1865 hier erbaut wurde. Ein prächtiger zweistöckiger Bau mit breiter Fassade, hohen Fenstern und einem Flachdach, auf dem ein Spielplatz angelegt war. Im Innern war neben den Schlafsälen Platz für eine Schule, eine Synagoge und einen Krankensaal. Die Stiftung, die zuerst Jungen und dann auch
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