Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
nichtjüdischen Familien im ganzen Land, die bereit waren, jüdische Kinder verdeckt in ihre Familien zu integrieren. Und ohne die Bereitschaft des Personals in der Krippe, bei diesem Unternehmen mitzumachen, ging gar nichts. Walter Süskind, der kraft seines Amtes als jüdischer Direktor der Schouwburg im Theater und der Krippe ungehindert ein- und ausgehen konnte, schaffte es, Menschen zu finden, die bereit waren, für die Rettung jüdischer Kinder ein großes Risiko einzugehen.
Im Laufe des Frühjahrs 1943 organisierten sich in Amsterdam vier nichtjüdische Widerstandsgruppen, vor allem aus jungen Leuten und Studenten, mit Ablegern landesweit, die sich auf die Entführung von Kindern aus der jüdischen Krippe in der Plantage Middenlaan und ihre Unterbringung in nichtjüdischen Familien spezialisierten. Einige hatten schon seit Sommer 1942 mitgeholfen, dass Kinder direkt aus jüdischen Familien untertauchen konnten, noch bevor die Razzien begannen. Dazu gehörte das Amsterdam-Utrechter Studententeam und die Gruppe »Namenlose Vennootschap« (Aktiengesellschaft, auch Stille Teilhaber) die aus Mitgliedern der Reformierten Kirche und Mitarbeitern der illegalen Zeitung Trouw (Treue) bestand, denen sich auch Katholiken anschlossen.
Zum Personal in der Crèche gehörte Sieny Kattenburg, 1924 in Amsterdam geboren. Sie war 1941, als Juden keine normalen Schulen mehr besuchen durften, ins »Kinderhaus« gegangen und hatte dort die Ausbildung zur Kinderpflegerin durchlaufen. Nun war sie eine von zwei engen Mitarbeiterinnen von Direktorin Pimentel. Da die gefangenen Eltern nicht zu ihren Kindern in der Krippe durften, brachte sie den Müttern die Säuglinge zum Stillen ins Theater und durfte auch sonst ungehindert zwischen Krippe und Schouwburg pendeln. Dank seinen guten Kontakten zu den Deutschen, erfuhr Walter Süskind schon am Morgen, wenn abends ein Transport ins Lager Westerbork geplant war, und bekam die Listen, welche Eltern aus der Schouwburg mitgehen mussten. Die Namen teilte er umgehend Direktorin Pimentel mit, und sie schickte noch am Vormittag Sieny Kattenburg in die Schouwburg.
Rund 600 jüdische Kinder wurden von Studenten aus der Crèche gegenüber der Schouwburg gerettet
Inmitten der Enge und im dichten Gewühl der Menschen nahm die Neunzehnjährige vorsichtig die betroffenen Eltern beiseite: »Was ich Ihnen sage, ist ganz geheim. Heute Abend um zehn Uhr müssen Sie mit ihren Kindern auf den Transport nach Westerbork.« Dann schlug sie vor, vielleicht eines der Kinder in der Krippe zurückzulassen, wo man gut für es sorgen werde – »bis Sie wieder zurückkommen«. Sie werde um vier Uhr wieder da sein, dann müssten die Eltern eine Entscheidung getroffen haben. Viele Eltern brachten es nicht übers Herz und erklärten am Nachmittag: »Wir sind jung und stark, wir können selbst für unsere Kinder sorgen.« Einige jedoch beschlossen, sich von ihrem Kind zu trennen und baten die Kinderpflegerin: »Sorgen Sie dafür, dass es in eine Umgebung kommt, wo es ihm gut geht, bei lieben Menschen.« – »Ja, dafür werden wir sorgen, bis Sie zurückkommen«, antwortet Sieny Kattenburg. Jahre später im Rückblick sagte sie: »Das glaubte ich auch selber.«
Am Abend weckten die Pflegerinnen gegen zehn Uhr die Kinder, die mit den Eltern gingen. Um diese Zeit machten sich auch in der Schouwburg die Eltern für den Transport zum Bahnhof fertig: »Es waren meist Kleine, zwischen einem und vier Jahren. Sobald sie wach waren, wollten sie ihre Mammi sehen.« Schnell wurden die Kinder angezogen und auf die gegenüberliegende Straßenseite gebracht, wo die Besatzer die Menschen unter lautem Geschrei aus dem Theater trieben. Sieny Kattenburg: »Es war so etwas von schrecklich … Dazwischen die Kinder, die man zu den Eltern bringen musste. Die Angst der Eltern. Die Angst. Das war das Aller-, Aller-, Allerschlimmste.«
Hatten sich die Eltern entschieden, den Weg ins Lager allein anzutreten, den jungen Pflegerinnen in der Krippe zu vertrauen und ihnen ihr Kind zu überlassen, hing viel von Walter Süskind und seinen Mitarbeitern in der Schouwburg ab. Wenn es ihnen gelang, den meist anwesenden Ferdinand aus der Fünten oder andere Dienst habende Deutsche volltrunken zu machen, konnten sie vor dem Abtransport unbemerkt die Zahl der Kinder in den Listen fälschen. Gelang es nicht, informierten sie Sieny Kattenburg, die den Eltern kurz vor der Abfahrt zum Bahnhof ein »Ersatz-Baby« brachte: eine Puppe, oder ein Kissen mit
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