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Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Titel: Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Beuys
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Miranda.
    Jeden Morgen verteilte Willem Henneicke – arbeitsam, autoritär, gnadenlos – an seine Leute Adressen von einzelnen untergetauchten Juden und verdächtigen Wohnungen. Es mangelte nicht an anonymen Hinweisen und Verrätern. Auch ein Gang durch Amsterdams Straßen war meist ertragreich. Wer »jüdisch« aussah, aber keinen gelben Stern trug, wurde angehalten. Hatte der Ausweis ein »J« oder kam den Henneicke-Männern – man ging immer zu zweit auf Tour – verdächtig vor, hieß es: verhaftet, mitkommen! Das »Geheimnis des Erfolgs« war das Schneeballsystem: aus jedem erjagten Juden im Verhör so viele Adressen wie möglich von anderen Untergetauchten »herauszuholen«. Dabei waren Drohungen und brutale Schläge an der Tagesordnung.
    Während sich in der Joodse Schouwburg immer mehr Erwachsene drängen, neben Koffern und Rucksäcken auf dem Boden lagern, sich bei Tag und Nacht kaum drehen und wenden können, werden gegenüber in der jüdischen Kinderkrippe immer mehr jüdische Kinder untergebracht. Die einen wurden von der Polizei mit ihren Eltern, die nun in der Schouwburg gefangen sind, aus den Wohnungen geholt. Andere wurden von Männern der Kolonne Henneicke bei christlichen Pflege-Eltern aufgespürt, denn auch für Kinder gibt es bei Ablieferung an die Besatzer die volle Prämie.
    Dass die jüdischen Kinder von eins bis zwölf Jahren seit Oktober 1942 die Zeit bis zu ihrer Deportation bei freundlichen Pflegerinnen in einer Kinderkrippe verbringen konnten und nicht im überfüllten Theatersaal, hatte Walter Süskind, der jüdische Direktor der Schouwburg, den deutschen Besatzern abgehandelt. Sie gaben ihre Zustimmung, weil sich direkt gegenüber der Joodse Schouwburg auf der anderen Straßenseite eine etablierte jüdische »Säuglingseinrichtung mit Kinderhaus« befand, die sich vom deutschen Posten, der vor dem Theatereingang stand, gut überwachen ließ. Walter Süskind hatte seine ganze Überzeugungskraft bei denen, die ihn und seine Glaubensgenossen vernichten wollten, eingesetzt – nicht ohne Hintergedanken.

XI
    Krippe für die Deportierten –Netzwerk zur Kinder-Entführung – Betrunkene Bewacher – Gefälschte Listen – Eltern mit Puppe auf Transport – Im Lyzeum bleiben die Schüler fort
    Die jüdische »Säuglingseinrichtung mit Kinderhaus« in der Plantage Middenlaan 31 war die modernste Einrichtung dieser Art in Amsterdam. Sie hatte Platz für rund hundert Säuglinge und Kinder bis zu sechs Jahren, die am frühen Morgen gebracht und am Nachmittag abgeholt wurden. Seit der Gründung 1906 wurden jüdische und nichtjüdische Kinder aufgenommen, auch das Personal – Blaue Bluse, weiße Schürze und weißes Häubchen – war »gemischt«. Direktorin der »Crèche« war seit 1926 Henriette Henriquez Pimentel, Jahrgang 1876, eine kleine Frau mit kurz geschnittenem grauem Haar. Wer sie näher kannte, wusste, dass hinter ihrem strengen Auftreten ein großes Herz für »ihre« Kinder und das Pflegepersonal steckte. Und Brunie, ihr kleiner Hund, war selbstverständlicher Teil des Kinderhauses.
    Die deutschen Wachmänner am Eingang der Schouwburg hielten ein strenges Auge auf den Eingang der Krippe gegenüber, seit sie eine Dependance vom »Durchgangslager« Schouwburg geworden war. Die Kinder dort – auch die Kleinsten – waren, wie ihre Eltern, von den Deutschen zur Deportation und damit zur Vernichtung bestimmt. Ihre genaue Zahl wurde in eine Liste eingetragen, wenn sie nach der Einlieferung vom Theater in die Krippe gebracht wurden, und sie durften das Gebäude grundsätzlich nicht verlassen.
    Direktorin Pimentel und drei Pflegerinnen hatten sich nach der neuen Funktion der Krippe je eine Schlafkammer unterm Dach eingerichtet. Aus der Synagoge im ersten Stock wurde ein großer Schlafsaal. Denn die Kinder aus der Schouwburg waren keine »Tageskinder« wie bisher üblich, sondern ständige Gäste. Sie blieben, auch nachts, so lange in der Crèche, bis sie mit ihren Eltern oder allein ins Lager Westerbork »auf Transport gesetzt« wurden und von dort weiter in den Osten fuhren. Wer glaubte daran, dass Säuglinge und Kinder dort zum Arbeitsdienst eingesetzt würden?
    Walter Süskind glaubte nicht daran. Nachdem es ihm gelungen war, die kleineren Schouwburg-Kinder getrennt in der Krippe unterzubringen, überlegte er fieberhaft, wie er möglichst viele aus der Gewalt der deutschen Besatzer befreien könnte. Ein Netzwerk war nötig, das sich aus Fluchthelfern zusammensetzte und aus vielen

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