Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Zuge antreten sollen. Amsterdam, den 14. 4. 43.« Unterzeichnet hatte SS -Hauptsturmführer F. A. G. Streich, der Vertreter von Ferdinand aus der Fünten, dem der reibungslose Ablauf der Deportationen oblag. Voller Schuldgefühle fuhren die Pflegerinnen vom Lager Westerbork zurück nach Amsterdam. So lange sie in der Krippe Dienst taten, waren sie vom gefürchteten »Arbeitsdienst in Deutschland« freigestellt. Aber hätten sie nicht bei den Kindern im Lager bleiben sollen?
Doch jede Abweichung von der Routine hätte das Vertrauen der Deutschen in die Arbeit der Kinderkrippe gestört und das weitläufige Rettungswerk in Gefahr gebracht. Alle, die sich am »Kinderschmuggel« aus der Crèche gegenüber dem »Durchgangslager« Schouwburg beteiligten, waren entschlossen, diesen lebensrettenden Widerstand zu leisten, wenn möglich noch auszudehnen, so lange die Deportationen anhielten.
Um Kinder, wenngleich größere, ging es auch in der Lehrerkonferenz des Jüdischen Lyzeums. Es war im September 1941 eingerichtet worden, als auf Befehl der Besatzer die jüdischen Schüler nur noch jüdische Schulen besuchen durften. Am 7. April 1943 wollte das Kollegium die Osterzeugnisse vorbereiten. Lehrern und Lehrerinnen war schmerzhaft bewusst, dass sie ihren Schützlingen keinerlei Schutz bieten konnten. Direktor Willem Elte eröffnet die Konferenz, blickt auf die letzte Zeugnisliste, »und denkt zuallererst an alle die Kinder, die beim letzten Mal noch auf dieser Liste standen.« In Gedanken fügt jeder hinzu: und in der Zwischenzeit deportiert oder untergetaucht sind. Dann geht man anhand der letzten Listen die einzelnen Klassen Name für Name durch. Und in die Stille klingt es: »Ist fort – verschickt – kommt nicht mehr zurück – die muss auch fort sein – ist noch in der Schouwburg …«
Der Direktor hatte die Kollegen auch an einen Lehrer und eine Lehrerin erinnert, die »verschickt« worden waren. Und er sprach den Wunsch aus, »dass diese Reisenden aus dem Land zurückkehren mögen, in das sie gegangen sind«. Es war die letzte Lehrerkonferenz im Jüdischen Lyzeum zu Amsterdam, Stadstimmertuin 1, nur einen Torbogen von der Amstel entfernt und wenige Minuten bis zur Magere Brug und zum Theater Carré.
XII
Streik: 175 Tote – Zwangsarbeit oder Untertauchen – Radio-Verbot – Die letzten Razzien – Keine Sperren mehr – Neuer Fluchtweg aus der Crèche – 600 Kinder gerettet – Bomben aus der Luft – Die Revue geht weiter
April bis Dezember 1943
Am 27. April schreibt Hendrik Jan Smeding in sein Tagebuch, dass die Menschen mutlos und verzweifelt sind, weil der Krieg so lange dauert und es keine Aussicht auf Veränderung gibt. Trotz vieler guter Nachrichten von der Front gelingt es den Alliierten nicht, die deutsche Militärmacht entscheidend zu schwächen. Und es passiert mit »den eigenen Menschen um uns herum« zuviel: »Noch täglich werden hunderte Juden abgeführt … Aber auch in nichtjüdischen Kreisen regnet es Verhaftungen und man bekommt fast ein Minderwertigkeitsgefühl, wenn man noch nicht verhaftet ist.« Dann kann der Chronist doch eine kleine »Kriegssensation« vermelden: »Sonntag waren viele Flugzeuge über der Stadt, und eins davon ist abgeschossen worden und über dem Carlton Hotel abgestürzt.« Wie nach dem Brandanschlag aufs Einwohnermeldeamt einen Monat zuvor strömten die Amsterdamer herbei, und es herrschte eine »vergnügte Stimmung wie am Königinnen-Tag«.
Die Vijzelstraat, wo das Luxus-Hotel lag, in dem sich die deutsche Wehrmacht einquartiert hatte, war zwischen Keizers- und Herengracht abgesperrt, und Polizisten hielten die Menschen zurück. Die brennende Militärmaschine war beim Absturz explodiert und hatte mehrere Häuser zerstört. Auch Tote gab es. Aber die Amsterdamer, die fast auf den Monat genau seit drei Jahren unter der Gewalt der Besatzer lebten, wussten: Für die Alliierten lag ihre Stadt im Feindesland, und nur eine Zerstörung der deutschen Stellungen und Machtzentralen würde Amsterdam aus dem Elend erlösen.
Zwei Tage später schlug wieder eine Bombe ein – im übertragenen Sinn, aber die Wirkung war durchdringend. Der »Wehrmachtsbefehlshaber in den Niederlanden« gab am 29. April 1943 bekannt, dass er hiermit »die sofortige Rückführung der Angehörigen der ehemaligen niederländischen Wehrmacht in die Kriegsgefangenschaft« anordnet. Kurz nach der Kapitulation im Mai 1940 hatte Hitler die knapp 300 000 gefangenen niederländischen
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