Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Soldaten nach Hause geschickt. Sein Kalkül: dass die »großzügige« Geste mithelfen würde, die besiegten Niederländer der nationalsozialistischen Bewegung gewogen zu machen. Ein Trugschluss.
Auslöser für den »Rückruf« war die katastrophale Situation der deutschen Kriegswirtschaft. Die Millionen von Zwangsarbeitern, die man bisher aus den besetzten Gebieten, vor allem aus dem Osten, nach Deutschland verschleppt hatte, reichten nicht aus, die Zahl deutscher Arbeiter zu ersetzen, die in immer kürzeren Abständen als Soldaten eingezogen und an den wankenden Fronten geopfert wurden. Die Niederländer hatte man schon 1942 zum Arbeitsdienst in Deutschland aufgefordert, aber nur eine Minderheit war diesem Aufruf gefolgt. Jetzt sollten die ehemaligen Soldaten zwangsweise die Lücken füllen.
Kaum hatte sich am 29. April mittags die Bekanntmachung der Wehrmacht verbreitet, legten in Trente Arbeiter in großer Zahl die Arbeit nieder. Telefonaufrufe gingen quer durchs Land: Streik hieß die Parole. Am 30. April streikten rund eine Million Niederländer – Arbeiter, Beamte und Angestellte in Verwaltungen und Betrieben; die Bauern lieferten ihre Milch nicht ab. Innerhalb von 24 Stunden war Aufruhr im bisher ruhigen Land, von Nord-Holland über Groningen und Geldern bis ins südliche Limburg – nur in den großen Städten im Westen rührte sich niemand. In Amsterdam, der Hauptstadt, gingen die Menschen ihrer Arbeit nach, stellten sich brav in langen Schlangen beim Gemüsehändler an. Die Straßenbahnen fuhren, der Zugverkehr am Hauptbahnhof war pünktlich.
Der SS - und Polizeiführer Hanns Albin Rauter hatte umgehend in den Unruhe-Provinzen das Polizeistandrecht ausgerufen: »Die mir unterstehenden SS - und Polizeiverbände schießen ohne Warnung unverzüglich, wenn Zusammenrottungen irgendwelcher Art erfolgen…« Die Ausgangssperre wurde auf 20 Uhr vorverlegt.
3. Mai, Montag – Es herrschen wieder Ruhe und Ordnung in den besetzten Niederlanden. Die deutsche Polizei und die deutsche Waffen- SS haben tatsächlich ohne Warnung geschossen: an den Brennpunkten der Streiks auf Menschengruppen, die sich voller Empörung zusammenfanden und mit bloßen Fäusten gegen die Besatzer vorgingen. 95 Menschen wurden erschossen, rund 400 verwundet. SS -Standgerichte erließen bis zum 7. Mai 116 Todesurteile, 80 davon wurden vollstreckt und sofort öffentlich gemacht. Hunderte Niederländer verschwanden in den Gefängnissen. Die Amsterdamer lasen die ersten 26 Namen von standrechtlich Erschossenen schon in den Montagszeitungen. Sie sahen keinen Sinn darin, angesichts der Gewalt der Besatzer die Fackel des Streiks aufzunehmen.
Gegen 17 Uhr heulten an diesem Montag die Sirenen: Luftalarm, bald dröhnte das Abwehrfeuer der deutschen Geschütze über der Stadt. Bei dem folgenden Luftgefecht wurden vier Maschinen der englischen Luftwaffe über Amsterdam angeschossen. Es gab neun Tote, darunter drei englische Flieger. Eine Woche später wieder schweres nächtliches Abwehrfeuer, Flugzeuge stürzen in die Zuidersee, aus der die Leichen von sechs englischen Fliegern geborgen werden. Bei Tage beginnen die Besatzer, sich auf alles vorzubereiten und bauen einen Betonwall um den Museumsplein, wo Wehrmacht und deutsche Verwaltung nach der Kapitulation im Mai 1940 in die schönsten Villen eingezogen waren.
Der Streik war erfolgreich niedergeschlagen. Für die Deutschen kein Grund lockerzulassen, im Gegenteil: Nur keine Schwäche zeigen. Am 5. Mai kam eine neue Anordnung von Rauter: Niederländische Studenten, die nicht die geforderte Loyalitätserklärung gegenüber den Besatzern unterschrieben haben, mussten zum Arbeitseinsatz nach Deutschland. Und mit den Studenten war es nicht getan. Einen Tag später stand in den Zeitungen: »Verpflichtende Anmeldungen zum Arbeitseinsatz: Aufgerufen werden Männer zwischen 18 und 35 Jahren.« Sie sollen beim »deutschen Fachberater« in den Arbeitsämtern vorsprechen, der ihnen eine Arbeitsstelle in Deutschland zuweisen wird. Zielvorgabe der Besatzer: Von jedem Jahrgang sollen rund 10 000 niederländische Männer nach Deutschland gehen, pro Monat 30 000, und das mindestens sechs Monate lang.
Im vierten Kriegsjahr ist der Krieg angekommen in den Niederlanden, in den guten Stuben von Arbeitern, Beamten und Unternehmern, kleinen Leuten und Gutsituierten. So sehr die meisten Amsterdamer die Verfolgung der Juden verurteilten, so ehrlich ihre ohnmächtige Wut war – das Schreckliche führte nicht
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