Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Babysachen umwickelt oder einen dick gefüllten Lumpen. Das nahmen die Eltern beim Verlassen des Theaters, wenn gezählt wurde, schützend in den Arm, als ob der Säugling schlafe. Und diese Rolle mussten sie spielen, bis der deutsche Kontrolleur am Bahnhof die Zahlen abgeglichen hatte und sie im Zug nach Westerbork saßen. Im Lager wurde nicht nach den alten Zahlen gefragt, sondern eine neue Liste angelegt.
Waren die Kinder älter, und es hatte mit den Fälschungen auf der Liste nicht geklappt, dann baute sich Walter Süskind am Abend vor dem Kontrollposten an der Schouwburg auf, den er zuvor ebenfalls mit einer Menge Alkohol traktiert hatte. Süskind nahm ihm mit freundlichen Worten das Abzählen der Kinder ab, die bereit zum Transport standen. Für den Bewacher musste nur die Endzahl auf der Liste stimmen, die auch Walter Süskind kannte. Und Süskind zählte laut: … 33, 34, 35, 46, 47, 48, 59, 66 … bis zur korrekten Endzahl. Auf diese Weise »verschwanden« Säuglinge und Kinder unbemerkt für die Bewacher und mit den Fluchthelfern konnte das weitere Vorgehen abgemacht werden. Denn es war erst der erste Teil der Kinderrettung geschafft. Ob Säuglinge oder größere Kinder: Sie alle mussten nun unter den Augen der Deutschen unbemerkt aus der Krippe geschleust werden.
Relativ einfach war es für die Pflegerinnen, Babys in Kartoffelsäcke oder Schachteln, in Rucksäcke oder Taschen zu stecken und um die nächste Ecke in die Plantage Parklaan 9 zu bringen, wo der Jüdische Rat eine »Kleiderkammer« eingerichtet hatte. Dort warteten schon die jungen Leute der Widerstandsgruppen, um die Kinder in Empfang zu nehmen. Die »Kuriere« gingen gleich mit ihren Schützlingen zum Bahnhof und fuhren zu den pflegebereiten Familien. Um die Kinder so unauffällig wie möglich in der Provinz unterzubringen, wurde den Helfern für ihre Adressensuche von der Crèche per Telefon durchgegeben, ob es sich um »Ersatzkaffee« oder »Ersatztee« handelte. Ersteres bedeutete eine eher dunkle Hauttönung und dunkle Haare; diese Kinder wurden in Hollands Süden vermittelt. Bei »Ersatztee« ging es um eher hellhäutige, blonde Kinder, für die man eine Familie im Norden suchte. Und alles musste unter ungeheurem Zeitdruck organisiert werden.
Waren die Kinder älter, nutzten die Pflegerinnen häufig die Straßenbahn, die mitten in der Plantage Middenlaan in Richtung Innenstadt fährt, zum Hinausschmuggeln. Sie hatten zusammen mit ihrem Schützling wenige Sekunden: Wenn sich die Bahn mit ihrem Wagen auf der Höhe zwischen Schouwburg und Krippe befand, und der Wache die Sicht auf die Eingangstür der Krippe versperrte, lief die Pflegerin in Windeseile mit dem Kind rechts zur Tür hinaus und mit dem fahrenden Wagen ungesehen weiter. Autos waren schon lange nicht mehr auf der Straße, so dass beide nach etlichen Metern ungehindert auf den offenen Perron des Wagens springen konnten. Meist fuhr die Tram schon etwas langsamer. Fahrgäste, die es zum ersten Mal sahen, lachten über den akrobatischen Einstieg. Wer es nicht zum ersten Mal bemerkte, schwieg und dachte sich seinen Teil. Niemand hat diesen Fluchtweg, der zu einer weiter weg gelegenen Übergabe-Stelle führte, je verraten.
Walter Süskind überzeugte die Deutschen nach einiger Zeit, dass für die älteren Krippen-Kinder frische Luft wichtig war. Jetzt konnten von den Pflegerinnen im Viertel Übergabe-Stellen und Zeiten verabredet werden. Wenn Sieny Kattenburg mit den Kindern die Krippe zu einem Spaziergang verließ, wusste sie, wo der Fluchthelfer unauffällig auf dem Bürgersteig wartete. Entdeckte sie ihn, hielt sie das betreffende Kind ein wenig zurück, zeigte auf den Mann und sagte: »Da steht ein Onkel von dir, der bringt dich zu einem Bauernhof …« und schickte es zu ihm.
Alle gelungenen »Entführungen« spielten sich ab auf dem Hintergrund der fortlaufenden Deportationen der großen Mehrheit der Kinder. Besonders schwer ums Herz wurde es den Pflegerinnen in der Krippe, wenn Kinder ohne Eltern – wahrscheinlich waren sie untergetaucht –, direkt aus der Crèche auf Transport geschickt wurden. Dann mussten zwei Pflegerinnen die Kinder nach Westerbork begleiten, zum Beispiel am 14. April, und in der Tasche hatten sie eine Bescheinigung: »Es wird hiermit bestätigt, dass … (Name und Geburtsdatum der beiden Begleiterinnen) als Begleitung für die Waisenkinder mit dem Transport vom 14. April 1943 nach Westerbork fahren und die Rückreise nach Amsterdam mit demselben
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