Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
mit der Aufschrift »Oranje«. Ausdrücklich wird vor »wilden Rachemaßnahmen« gewarnt: »Über alle Verräter, Spione, Nazi-Helfer und Handlanger des Feindes wird streng Recht gesprochen werden.« Wenn die Tanks der Bundesgenossen in die Stadt einfahren, sollen die Bewohner ihnen Flankendeckung geben, damit sie sicher sind vor zurückgebliebenen Nazi-Truppen: »Und sobald sie hereinfahren, hängt überall die Fahnen raus!« Im letzten Absatz wird gewarnt: »Passt auf die NSB ler auf, die Verräter und heimtückischen Leute …«
Nicht nur die deutschen Besatzer, auch ihre niederländischen Handlanger und Gesinnungsgenossen fühlten sich in Amsterdam ihres Lebens nicht mehr sicher. Nur weg, hieß an diesem Dienstag die Devise derer, die in der Hauptstadt als NSB ler bekannt waren. Sie wussten, dass der Wunsch der allermeisten Amsterdamer, die niederländischen Nazis am höchsten Baum aufzuhängen, kein Witz war. Am Morgen machten erste Gerüchte die Runde: In der Prinsengracht seien Amsterdamer Nationalsozialisten ertränkt worden; NSB ler würden belastendes Material in die Grachten werfen und in ihren Parteibüros verbrennen.
Was kein Gerücht war: Tausende von Frauen, durch ihre Ehemänner oder als Parteifunktionärinnen mit der NSB verbunden, machten sich am Dienstagmorgen mit Sack und Pack, die Kinder an ihrer Seite, auf zum Amsterdamer Hauptbahnhof. Die Besatzer hatten 25 Züge versprochen, mit denen Frauen und Kinder – nicht die Männer – aus der Stadt und in Sicherheit gebracht werden sollten.
5. September 1944: am »dollen Dienstag« flüchten deutsche Soldaten und NSBler aus der Stadt
Am Bahnhof mussten sich die Flüchtenden den Weg durch eine johlende Menge bahnen; der Hass war mit Händen greifbar. Nach stundenlangem Warten auf dem Bahnsteig wurde klar: Heute kommt kein Zug mehr. Es galt, irgendwo in Bahnhofsnähe eine Schlafgelegenheit zu suchen. Am nächsten Tag, dem 6. September, fuhren die Sonderzüge in die Centraal Station ein und wurden gestürmt. Zurück auf dem Bahngleis blieben Schreibmaschinen, Büromaterial, Hausrat und sogar Hühnerkäfige. Unterwegs auf dem platten Land Richtung Osten wurden einige Züge, in denen uniformierte deutsche Soldaten für Ordnung sorgten, von alliierten Flugzeugen im Tiefflug beschossen. Stopp, alle raus, neben den Gleisen in Deckung gehen. Man zählte dreißig Tote.
Insgesamt brachten 31 Züge bis zum 9. September rund 6500 Familienmitglieder von NSB lern aus Amsterdam heraus: die Hälfte von ihnen in den »Gau Osthannover«, in die Lüneburger Heide, die andere Hälfte nach Nord- und Ost-Holland. Viele Züge fuhren ohne Halt direkt an ihr Ziel. Doch in den ersten Tagen der Flucht machten rund 5000 Menschen aus dem Umkreis der Amsterdamer Nationalsozialisten einen makabren Zwischenstopp. Sie landeten im Lager Westerbork, wo es noch einige hundert jüdische Gefangene gab, die man in einem kleinen Teil hinter Stacheldraht zusammengedrängt hatte. Die »Sternträger«, immer noch von Deportation in den Osten bedroht, mussten Platz machen für die »Herrenmenschen« auf der Flucht.
Zurück zum 5. September, der als »verrückter Dienstag« (dolle dinsdag) in die niederländischen Geschichtsbücher eingegangen ist. Die Amsterdamer standen an den Ausfallstraßen Richtung Haarlem, versammelten sich am Dam in der Innenstadt und warteten geduldig, Stunde um Stunde. Die Gerüchte über die Ankunft der ersehnten alliierten Soldaten jagten sich: Sie sind schon in Den Haag, um halb drei Uhr angeblich in Leiden. Zur gleichen Zeit wurden in den Straßen Amsterdams immer noch Möbel und Archive von den Deutschen in Wagen geschleppt und eilends weggefahren. Irgendwann ließen die Begrüßungsblumen für die Befreier ihre Köpfe hängen. Die Nationalflaggen spendeten auch keinen Trost. Die Soldaten der Alliierten, ihre Panzer und Geschützwagen, blieben aus.
Was die Menschen um diese Zeit nicht wussten: Die optimistischen Nachrichten von Radio Oranje über den Kriegsverlauf am Montagabend entsprachen nicht den Realitäten. Das Flugblatt von Het Parool am Dienstagmorgen verbreitete falsche Nachrichten: Die niederländischen Städte Tilburg, Roosendaal und Maastricht waren von den Alliierten nicht erobert worden, die deutsche Wehrmacht noch nicht geschlagen. Das Hochgefühl der Widerstandskämpfer und die sehnsüchtige Erwartung der Amsterdamer, endlich von den Besatzern erlöst zu werden, ist nachvollziehbar. Zumal die Entfernung Amsterdam-Antwerpen, wo die
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