Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Finanzierung des Streiks in den kommenden Wochen übernehmen.
Aber den Zerstörungen, mit denen die Besatzer mögliche Angriffe der Alliierten auf die Hauptstadt erschweren und die Moral der Amsterdamer brechen wollten, mussten die Widerständler ohnmächtig zusehen. Am 18. September machten die Deutschen in Schiphol die Start- und Landebahnen unbrauchbar; wichtige technische Installationen des Flughafens wurden gesprengt und in Brand gesteckt. Am 20. und 21. dröhnten den Amsterdamern die Sprengungen im Ohr, mit denen im Hafen über 200 Kräne und die Kaimauern zerstört wurden. Die Rauchwolken waren weithin sichtbar. Die Werften wurden zertrümmert. Was noch brauchbar und nicht längst geraubt war, wurde in Eile nach Deutschland abtransportiert.
Neben dem Ortskommandanten für Amsterdam wurde zusätzlich ein Kampfkommandant eingesetzt. Am Museumsplein, ohnehin seit Frühjahr 1943 verbarrikadiert, erweiterten die Deutschen den Bunker, und alle Absperrungen wurden verdoppelt. Die Menschen in der Hauptstadt sollten sehen, dass die Deutschen die »Festung Amsterdam« auf Biegen und Brechen verteidigen werden. Die Operation Market Garden hatte einen dramatischen Wettlauf um die Zeit ausgelöst.
Wir wissen aus dem Rückblick: Während die Deutschen in Amsterdam demonstrativ eine Politik der verbrannten Erde praktizierten, war dieser Wettlauf schon verloren – für die Alliierten. Die militärische Offensive in Arnhem war in den Anfängen stecken geblieben. Einmal gelandet, kämpften die britischen Fallschirmjäger gegen die deutschen Truppen auf verlorenem Posten, denn die zu ihrer Verstärkung eingeplanten Panzer aus dem Süden trafen nicht ein. Am 21. September ergaben sich die ersten britischen Soldaten. Die wichtige Brücke bei Arnhem konnte nicht erobert werden. Am 24. September, als die Deutschen rund 95 000 Bewohner von Arnhem zwangen, die Stadt zu verlassen, weil sie mit den Alliierten sympathisiert hatten, wussten alle Beteiligten: Operation Market Garden war eine katastrophale Niederlage für die Armeen der Westmächte. Beide Seiten hatten in den wenigen Tagen je 1500 gefallene Soldaten zu betrauern.
Wie viel zerstörte Hoffnungen verträgt der Mensch? Wie viel ohnmächtige Wut kann sich ansammeln, bevor es zur Explosion kommt? Wieder sackte die Stimmung der Amsterdamer innerhalb weniger Tage von erwartungsvoller Freude ab in tiefe Resignation. Unterdessen ging der Streik der Eisenbahner weiter. Und auf den Litfaßsäulen der Hauptstadt sprangen den Vorübergehenden in großen Buchstaben die Drohungen der Besatzer in die Augen, falls die Eisenbahner nicht wieder an ihre Arbeit gingen: »Eisenbahnerstreik? Die Folge: Keine Steinkohle – kein Gas – keine Elektrizität – keine Lebensmittel.«
XV
Die letzten Züge in den Tod – Die Mordbilanz
Im Schatten des großen Krieges, in jenen Tagen, als die Amsterdamer nur eine Frage bewegte: Wann werden wir endlich befreit, fahren aus dem Lager Westerbork zum letzten Mal Züge mit Viehwaggons, gefüllt mit Menschen, nach Osten in die Vernichtungslager.
Fast 99 Prozent aller Deportationen von Amsterdam nach Westerbork geschahen in nur 14 Monaten, zwischen Juli 1942 und Oktober 1943. Aber auch wenn die Hauptstadt anschließend als »judenrein« galt, wurden immer wieder Juden aufgespürt, die untergetaucht waren, wie die Familie von Anne Frank, die am 8. August 1944 im Lager ankam. Zu der Zeit lebten in Westerbork noch einige führende Männer des längst aufgelösten Jüdischen Rates mit ihren Familien, darunter die beiden Vorsitzenden Professor David Cohen und Abraham Asscher, beide aus alten Amsterdamer Familien, und der deutsch-jüdische Emigrant Walter Süskind mit Frau und Tochter. Süskind war verantwortlich gewesen für die Organisation im »Durchgangslager Schouwburg«. Er hatte hunderten von jüdischen Erwachsenen aus diesem Lager zur Flucht verholfen, und seinen Kontakten zu den Besatzern war es zu verdanken, dass gegenüber vom Theater eine Krippe für jüdische Kinder eingerichtet wurde: die Crèche, aus der vier Studenten-Gruppen im Sommer 1943 rund 600 Kinder in die Freiheit schmuggeln konnten.
Am 3. September 1944, die Alliierten hatten Brüssel befreit, verließ der 91. Deportationszug Westerbork. Genau 1019 Menschen – 498 Männer, 422 Frauen, 79 Kinder – waren im Lager in die Viehwaggons getrieben worden, darunter Edith und Otto Frank, die Eltern, und ihre Töchter Margot und Anne. Auch Walter Süskind mit seiner Frau Johanna
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