Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Amerikaner am 3. September einmarschiert waren, gerade mal 160 Kilometer beträgt.
Doch dies war ein Krieg wie keiner zuvor, und die Flucht der Deutschen aus Amsterdam täuschte. So sehr die Gesamtkonstellation an den Fronten im Osten und Westen Europas eine militärische Niederlage der Deutschen mit Gewissheit vorhersagen ließ, Hitler und seine Mitstreiter, auch die Generäle der Wehrmacht, waren entschlossen, weiterzukämpfen bis zum Letzten. Und, wenn es dahin käme, die besetzten Gebiete mit in den Untergang zu ziehen. Außerdem war die geografische Situation sehr kompliziert. Zwischen Amsterdam und den Armeen der Westmächte an der Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden lagen die großen Flüsse Waal und Lek, hinter denen sich die deutschen Soldaten wie in einer Festung eingeigelt hatten. Die Befreier konnten nicht einfach übers platte Land nach Norden durchmarschieren.
6. September – Die widersprüchlichen Szenen in der Stadt nehmen zu. Unter dem Schutz der Amsterdamer Polizei treffen sich in der Polizeizentrale in der Marnixstraat drei Widerstandskämpfer als Vertreter der unterschiedlichen Organisationen – ein Gärtnereiarbeiter, den seine streng calvinistische Überzeugung in den Widerstand führte, ein ehemaliger Spanienkämpfer, ein Jude, und ein früherer höherer Polizeibeamter. Ernüchtert stellen sie fest, dass sie sich auf gerade einmal vierzig bewaffnete Männer verlassen können, falls man den alliierten Soldaten die Aufgabe erleichtern und die Deutschen selber aus der Hauptstadt vertreiben will.
Derweilen halten die Reste der Wehrmacht zusammen mit der niederländischen Landwehr in den Straßen Amsterdams weiterhin Autos, Lastwagen und Fahrradfahrer an; die Besitzer müssen aussteigen beziehungsweise absitzen und zu Fuß weitergehen. Den Besatzern mangelt es offensichtlich an Fortbewegungsmitteln aller Art. Wenig später werden von den Deutschen die Unterstellräume in Amsterdam aufgebrochen und alle Fahrräder mitgenommen. Sportveranstaltungen und Festivitäten sind abgesagt.
Die Situation ist unklar, schwer durchschaubar. Viele Amsterdamer geben die Hoffnung nicht auf, dass es nur eine Sache von Tagen sein kann, und die Stadt, allen Verzögerungen zum Trotz, befreit wird. Der Lehrer Hendrik Jan Smeding gehört nicht zu den Optimisten. In seinem Grachtenhaus schreibt er am 6. September, es ist ein Donnerstag, ins Tagebuch: »Was für ein entsetzlicher Kater – wieder einmal ist nichts von allem wahr! Können wir denn selbst dem Englischen Rundfunk und seiner Berichterstattung nicht mehr trauen? … Alles war wieder nur ein Märchen: die Befreiung durch die amerikanischen Panzer, die wie Gondeln über die Flüsse kommen sollten; die angeblich befreiten Gefangenen in den Lagern; die Fahnen und die Stimmung wie am Königinnen-Tag. Stattdessen sitzen wir abends wieder ab acht Uhr zuhause, hören die Stiefel auf das Pflaster knallen, und bekommen das beängstigende Gefühl, dass es sehr wohl noch viele Wochen dauern kann.«
Am Wochenende nach dem hoffnungsvollen verrückten Dienstag patrouilliert schon wieder deutsche Polizei, fahren die »Grünen« mit ihren Wagen wieder durch die Straßen von Amsterdam. Die Besatzer sind in ihre Büros zurückgekehrt, die deutschen Soldaten in ihre Unterkünfte. Über die gleichgeschalteten Zeitungen rufen die städtischen Energiebetriebe dazu auf, Gas und Elektrizität äußerst sparsam zu nutzen. Die Straßen werden nicht mehr mit Wasser gesäubert. Die Straßenbahnen fahren morgens von halb sieben bis um zehn Uhr und nachmittags von vier bis sieben Uhr. Das Rijksmuseum und andere Museen müssen schließen. Resignierender Tagebucheintrag am Montag, dem 11. September: »Niedergang, Schrumpfen, der Weg in die Düsternis, Stillstand, Stille und Tod.« Nach der Hochstimmung, dem Aufschwung der Gefühle wieder ein Absturz. So viele Male haben es die Amsterdamer schon erlebt, und doch löst das radikale Auf und Ab immer von Neuem tiefe Enttäuschung aus. Jedes Mal fällt der Pegel der Hoffnung.
Was nicht nach außen dringt: Am 11. September erhält der deutsche Sicherheitsdienst ( SD ) aus Berlin den ausdrücklichen Befehl, beim Aufspüren von Widerstandskämpfern und illegalen Treffen die »Zusammenkünfte rücksichtslos zu sprengen und die Teilnehmer niederzumachen«. Der Amsterdamer SD -Chef Willy Lages jedoch darf gemäß seiner Strategie weiterhin Widerständler bei ihrer Entdeckung nicht »niedermachen«, sondern als Gefangene in der
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