Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Adele aus Berlin emigrierte Geschäftsmann, aus der gemütlichen Wohnung in der Jan van Eijckstraat an seine Tochter in Chile: »Während ich hier schreibe, hört auf der Straße das Gebrüll der Lebensmittel- und Blumenverkäufer nicht auf, ländlich-schändlich, untermischt mit entsetzlicher Bettelmusik …«. Die fünfzehnjährige Hilde Goldberg, deren Mutter – eine deutsch-jüdische Emigrantin – in Ohnmacht gefallen war, als die deutschen Soldaten am 15. Mai an ihrer Wohnung vorbei durch Amsterdam Zuid zogen, sagte wenig später zu ihrer nichtjüdischen Freundin: »Wenn alles so bleibt, können wir den Krieg vielleicht überleben.« Wenn die deutschen Soldaten, die ins populäre Amstelparkbad in Amsterdam Zuid gingen und korrekt Eintritt bezahlten, verlangten, dass im Wasser ein Strick zwischen ihnen und den Niederländern befestigt werde, weil es unter ihnen viele Juden gebe – nun ja, das war ihre Sache.
Am 14. Juni wurde vielen Amsterdamern bewusst, dass die Zeit nicht stehen blieb. »Paris hat kapituliert«, schreibt Hendrik Jan Smeding in sein Tagebuch. »Dies ist ein stiller und sehr wehmütiger Abend.« Auf den Lehrer macht es einen noch tieferen Eindruck als die Kapitulation der Niederlande – bei aller Liebe nur »ein kleines Land«. Nun muss selbst das große Frankreich vor den Deutschen kapitulieren, mit Paris, »dem Symbol der Freiheit«. Als Frankreich, am 10. Mai gleichzeitig mit den Niederlanden von den Deutschen überfallen, im Juni 1940 bedingungslos kapituliert, sind die Deutschen – unter ihrem Führer Adolf Hitler – die Herren Europas. Vom Nordkap bis zu den Pyrenäen stehen ihre Soldaten. Sie haben stolze Völker unterworfen, herrschen dank einer gewaltigen Militärmaschine und mit einer aggressiven Ideologie, die keinerlei Moral und Recht kennt und Würde nur der eigenen »Herrenrasse« zugesteht.
Wer in jenen Tagen auf eine Landkarte Europas blickte, musste einen gewaltigen Glauben an die Kraft der Ideale von Freiheit und Menschenwürde haben. Und war solcher Idealismus angesichts der Realitäten nicht hoffnungslos naiv, lebensfremd? Am 25. Juni 1940 erscheint in den Niederlanden das Buch »Auf der Grenze zweier Welten«. Geschrieben hat es Hendrik Colijn, Ministerpräsident von 1932 bis 1939, viel bewunderter »Steuermann« der Nation in schwierigen Zeiten. Von dem schmalen Band wurden in wenigen Wochen rund 100 000 Exemplare verkauft.
Colijn, der konservative christliche Politiker, sieht den »gesunden Menschenverstand« auf seiner Seite: Deutschland wird für die nächste Zeit die entscheidende Macht in Europa sein. Die Niederländer sollen sich keine Illusionen machen: »Es mag immer noch Menschen geben, die glauben, eines Tages geht die Königin mit ihren Ministern in Hoek van Holland wieder an Land und am folgenden Tag ist dann alles wieder wie in alten Zeiten – wir glauben nichts davon.« Man habe nun die Wahl: »Abwarten, was über uns beschlossen wird« oder selber daran mitwirken, in welche Richtung es gehen soll. Für Hendrik Colijn ist es keine Frage, wofür die Niederländer sich entscheiden werden. Zumal er überzeugt ist, dass im Europa der Zukunft, »in dem Deutschland die Führung hat, Platz für die freien selbständigen Niederlande« sein wird.
Die Verkaufszahlen zeigen, wie sehr der angesehene Politiker aus alten Zeiten in diesen Tagen die Stimmung seiner Landsleute getroffen hat. Aber tief im Innern sammelten sich ambivalente Gefühle: der verletzte Nationalstolz, die Erinnerung an den freien »Geist der Niederlande«, von dem man nun schweigen musste, der Abscheu gegenüber den »Moffen«. Am 29. Juni 1940 drängten diese Gefühle heftig in die Öffentlichkeit.
Seit vielen Jahrzehnten war es üblich, die Geburtstage der königlichen Familie – von Königin Wilhelmina und Prinzessin Juliana – als öffentliches Fest zu feiern und damit die Treue des Volkes zum Haus der Oranier zum Ausdruck zu bringen. Seit seiner Heirat mit Prinzessin Juliana gehörte Prinz Bernhard zur Familie, und sein Geburtstag am 29. Juni 1940 war ein Samstag. Der Vormittag verlief ruhig in Amsterdam. Hier und da hing eine Flagge aus dem Fenster, vor dem Palais am Dam legten Menschen Blumen nieder. Zwar versuchten NSB -Anhänger dort Rangeleien auszulösen. Insgesamt jedoch war die Stimmung entspannt. Etliche Amsterdamer trugen eine weiße Nelke im Knopfloch, wie Prinz Bernhard es gerne tat.
Kurz nach 15 Uhr marschierte der Nationale Jeugdstorm, die Jugendorganisation
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