Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Seyß-Inquart: am 18. Mai 1940 von Hitler zum »Reichskommissar« für die »besetzten niederländischen Gebiete« ernannt
Kontinuität: Daran klammerten sich die Besiegten und Besetzten. Wenn denn eine neue Zeit kommen sollte, dann im Rahmen der alten bewährten Ordnung. Von den Generalsekretären bis hinunter zu den Bürgermeistern in Städten und Dörfern hofften die Niederländer in verantwortlichen Ämtern und Positionen auf ein Gegengeschäft: Für ihre Loyalität gegenüber den Besatzern würden sie einen Freiraum erhalten, um den Alltag ihrer Landsleute vor schmerzhaften Einschnitten an Freiheit und Lebensgestaltung durch die Sieger bewahren zu können. Wenn der Amsterdamer Bürgermeister die Stadt zu Ruhe und Ordnung aufrief, stand dahinter die beschwörende, unausgesprochene Aufforderung, im Gegenzug die Würde aller Bewohner zu achten. Die bisherige niederländische Obrigkeit konnte auch einen sichtbaren Erfolg verbuchen. Zu ihrer großen Erleichterung fanden die Anhänger der NSB bei den Deutschen bisher keine Beachtung und keine Vorzugsbehandlung wegen ihrer nationalsozialistischen Gesinnung.
Der Begriff »Aufsichtverwaltung«, den die Besatzer von nun ab häufig nutzten, um die neue Verwaltungsstruktur zu kennzeichnen, tat ein Übriges, beruhigende und Vertrauen erweckende Signale auszustrahlen. Er assoziierte eine deutsche Spitze, unter derem umgänglichen Blick die Niederländer – natürlich im gegenseitigen Interesse, schließlich waren die Holländer eine Kaufmannsgesellschaft – vorläufig friedlich leben und wirken konnten.
Am 30. Mai 1940 druckten die Zeitungen als offizielle Bekanntmachung, was tags zuvor im traditionsreichen Rittersaal feierlich und ohne eine Spur von Widerstand über die nationale Bühne gegangen war: »Seit gestern ist die höchste zivile Gewalt in den besetzten Niederlanden vollständig auf den Reichskommissar übergegangen. Die Generalsekretäre … haben ihre Mitarbeit zugesagt.« War es nicht erst gestern, dass die Amsterdamer an einem warmen, sternklaren Frühlingsabend einschliefen, in der Morgenfrühe durch deutsche Jagdbomber geweckt wurden und am Horizont schwarze Rauchwolken sahen und Schiphol brannte? Dass eingetroffen war, was sie um keinen Preis hatten denken wollen?
Gestern lag drei Wochen zurück. Im Heute galt, was der Kabarettist, Sänger, Liedertexter und Gelegenheitsdichter Clinge Doorenbos in seinem täglichen Gedicht für De Telegraaf, die auflagenstärkste Amsterdamer Zeitung, nach der Kapitulation als nationales Motto ausgegeben hatte: »Wie wir weiterleben müssen? / Genau so wie bisher: / Tut eure Arbeit, sorgt für Erholung, / Lasst euch nicht hängen. / Verkriecht euch nicht / Wie ein Maulwurf tief im Boden. / Lebt einfach, dreht euch so wie früher / Mit dem alten Erdball rund.« Der alte Erdball war schließlich nicht untergegangen, er drehte sich auch nach dieser Katastrophe weiter.
V
Die NSB macht Randale – Deutsche Polizei mischt mit – Ausbruch am »Nelkentag« – Hochkonjunktur – Illegale Flugblätter – Ariererklärung – Die Jüdische Revue spielt weiter
Juni bis Dezember 1940
Am 5. Juni 1940 schreibt der Amsterdamer Geschichtslehrer Hendrik Jan Smeding in sein Tagebuch: »Wir erwachen ein bisschen aus einem bösen Traum: noch keine Juden-Verfolgungen; keine Razzien; keine Säuberungen an den Universitäten.« Die Erleichterung, das Aufatmen konnte weitergehen, parallel zum Alltag, der so viel mehr dem gewohnten Leben vor der Besatzung entsprach als allen Befürchtungen. Nach Kinos und Theatern hatten auch die Museen wieder geöffnet. Dass nun Kaffee, Tee und Brot nur gegen Bezugsscheine verkauft wurden, war lästig, aber daran war man schließlich schon aus Friedenszeiten gewöhnt. Die Klubzeitung der Amsterdamer Schwimmvereinigung von 1870 sprach der Mehrheit aus dem Herzen: »Das Leben muss seinen Fortgang finden, und daran müssen wir alle mitarbeiten. Der Schwimmsport muss deshalb kräftig fortgeführt werden. Dadurch wird es möglich, die Schwierigkeiten im täglichen Leben besser zu meistern.« Ein wichtiger Gradmesser im christlich geprägten Holland, wo die Zeitungen in den dreißiger Jahren über den Kirchenkampf in Hitler-Deutschland informiert hatten, war das Gemeinde-Leben: Es ging ungestört weiter, ohne jeden Eingriff der Besatzer.
Nichts anderes versprachen und demonstrierten der Bürgermeister und die städtische Verwaltung den Amsterdamern: Trotz Kapitulation, trotz Besatzung – alles geht weiter wie
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