Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
bisher. Nur eine kleine, lautstarke Minderheit hielt dagegen, die Nationalsozialistische Bewegung der niederländischen Faschisten. Alles wird anders, lautete ihre Parole; schließlich waren ihre deutschen Gesinnungsgenossen die Sieger. Aber die Sieger dachten nicht daran, der NSB und anderen rechtsradikalen Gruppen Posten und Machtpositionen in der holländischen Politik und Gesellschaft zu übertragen. Und so machten die Radikalen aus eigenem Antrieb in der Hauptstadt auf sich aufmerksam, aggressiv und gewalttätig. Demokratie, Diskussionen, Kompromisse – das war gestern. Heute regiert die Straße.
Zwischen dem 6. und 24. Juni vergeht kaum ein Tag, am dem die Amsterdamer Polizei nicht gefordert war, weil die Wehrabteilungen ( WA ) der NSB oder faschistische Splittergruppen Randale machten. Im Café De Kroon am Rembrandtplein wird das Interieur kurz und klein geschlagen. Im Kaufhaus Bijenkorf am Dam werden acht große Schaufenster eingeworfen. Kellner, in der NSB organisiert, behindern den Verkehr in der Innenstadt mit einer Fahrraddemonstration, und fordern auf Plakaten: »Keine jüdischen Geschäftsführer im Gastgewerbe«. Im Café de Paris in der Beethovenstraat in Amsterdam Zuid stürmen rund zwanzig Männer die voll besetzte Terrasse, Scheiben und Spiegel werden eingeschlagen. Am Rembrandtplein sammeln sich schwarz Uniformierte und ziehen in die Kalver- und Amstelstraat, wo sie Zettel mit antijüdischen Parolen an die Geschäfte kleben. Auf dem IJ sclubgelände hinter dem Rijksmuseum treten in schwarzer Uniform dreihundert Mann der WA an und fordern, den Platz zum Exerzieren nutzen zu können.
Die Amsterdamer Polizei ist verunsichert. Wer gestern zu den Feinden der Demokratie zählte, steht heute mit seinem Gedankengut auf Seiten der Besatzer. Täglich müssen sich die einzelnen Polizisten und ihre Vorgesetzten fragen, wie weit ihre Spielräume sind, Recht und Ordnung in Amsterdam wie gewohnt durchzusetzen. Mal halten sich die Ordnungshüter im Hintergrund, mal verhaften sie die Täter.
Die Besatzer waren nicht nur mit Soldaten gekommen. Ende Mai hatte sich das Polizeibataillon 254 der deutschen Ordnungspolizei (Opo) mit 550 Mann in einer Schule in der Sarphatistraat einquartiert. Seine Führung logierte im prächtigen Kolonialinstitut, heute Tropenmuseum. Die Männer vom Opo-Bataillon, von den Niederländern wegen der Farbe ihrer Uniform meist »die Grünen« genannt, waren schwer bewaffnet. Der interne Auftrag lautete, »aufflackernde Unruhen« im Keim zu ersticken. Eher im Verborgenen agierte der SS -Apparat mit seinem Sicherheitsdienst ( SD ) und der Sicherheitspolizei (SiPo). Auch Gestapo und Kriminalpolizei gehörten dazu und waren für die Jagd auf politische Gegner zuständig. Im Juni zogen sie an die Herengracht 487.
Die Machtverteilung zwischen Siegern und Besiegten wird durch die »Verordnung« des Reichskommissars Seyß-Inquart vom 29. Mai 1940 geregelt. Die Verantwortung für »Öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit« lag bei der niederländischen Polizei – »sofern sich der Reichskommissar nicht der deutschen SS und Polizeitruppen bedient«. Und dann der entscheidende Satz: »Die niederländische Polizei steht unter Aufsicht der Deutschen Polizei und ist an ihre Anweisungen gebunden.« In der Hoffnung, mit den deutschen Kollegen eine sachliche Arbeitsgrundlage herzustellen und zu festigen, wiesen die niederländischen Vorgesetzen ihre Polizisten an, gegenüber der deutschen Polizei eine »korrekte und entgegenkommende Haltung« einzunehmen.
Dass in den Amsterdamer Verteilungs-Büros, wo man die Bezugsscheine für Nahrungsmittel abholte, niederländische Polizei auftauchte, war kein Grund zum Misstrauen. Es fiel nicht weiter auf, wenn aus der Schlange der Wartenden ab und an jemand von einem Polizisten herausgeholt und in ein Hinterzimmer gebeten wurde. Niemand sah, dass die Angesprochenen dort an die Kollegen von der deutschen Sicherheitspolizei übergeben wurden. So leistete die Amsterdamer Polizei anhand ihrer »Fremdenlisten« schnell und geräuschlos Amtshilfe. Die Verhafteten waren jüdische Emigranten aus Deutschland, meist mit politischem Hintergrund. Die Amsterdamer Polizei kümmerte sich nicht darum, was weiter mit ihnen geschah.
Bis zu den bürgerlichen deutsch-jüdischen Emigranten in Amsterdam Zuid sprach sich das nicht herum. Sie atmeten auf, weil alles blieb wie bisher – manches zu ihrem Leidwesen. Ende Juni 1940 schreibt Wilhelm Halberstam, der mit seiner Frau
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