Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Willem de Vlugt lässt beim zuständigen Generalsekretär des Innenministeriums anrufen: Die Anordnung verstoße gegen niederländisches Recht; im Gegensatz zu Ehrenämtern seien die Räte in demokratischer Wahl gewählt worden. Im Ministerium gibt man sich geschmeidig: Es sei doch keine Entlassung, sondern eine Enthebung der Funktionen und überhaupt nur vorläufig. Der Bürgermeister will nicht nachgeben, doch er hat die Rechnung ohne Dr. Hans Böhmcker gemacht. Der einundvierzigjährige Jurist, seit 1933 Mitglied der NSDAP , seit 1937 Lübecker Bürgermeister, war Mitte September 1940 zum »Beauftragten des Reichskommissars für die Stadt Amsterdam« ernannt worden. Er soll die städtische Verwaltung kontrollieren und auf die Politik der Besatzer ausrichten, aber nicht mehr mit »weicher Hand«.
Böhmcker dringt darauf, umgehend eine Bestätigungsliste der entlassenen jüdischen Gemeinderäte zu erhalten, Diskussionen ausgeschlossen, denn aufgrund der »zugegangenen Verfügungen« könne es »nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass die jüdischen Ratsmitglieder aus ihren Ämtern auszuscheiden« hätten. Vier der fünf jüdischen Gemeinderäte in Amsterdam sind Mitglied der seit dem Juli verbotenen Sozialdemokratischen Partei. Auch Alida de Jong, Parlamentsabgeordnete und 1939 zur Fraktionsvorsitzenden der SDAP im Gemeinderat gewählt, erfährt am 30. November, dass sie das Rathaus nicht mehr betreten darf.
In der letzten Fraktionssitzung aller sozialdemokratischen Gemeinderäte Amsterdams wird das unrechtmäßige Vorgehen mit keinem Wort erwähnt, kein Wort des Abschieds, gar des Bedauerns, geht an die politischen Mitstreiter aus Jahrzehnten. Da bricht einer von denen, die gegen Recht und Gesetz gehen müssen, das Schweigen und fragt, ob die sozialdemokratische Fraktion denn weitermachen könne als sei nichts geschehen? »Wir wollen doch nicht sentimental werden«, antwortet ihm der Sitzungsleiter. Noch vor Weihnachten 1940 erhalten die ehemaligen Gemeinderäte ein Schreiben der Verwaltung mit der Aufforderung, ihre Freikarte für das Schauspielhaus zurückzugeben, die sie nun nicht mehr brauchen würden. Ab 1. Januar 1941 läuft ihre Freikarte für die Straßenbahnen ab. Dienstwohnung und Telefonanschluss können sie »vorläufig« behalten.
Für die, die damals in der Gegenwart leben, ist es kaum möglich, sich ein Gesamtbild von der Politik der Besatzer zu machen. Die einzelnen unrechtmäßigen Maßnahmen passen keineswegs zusammen, widersprechen sich teilweise, sind auf einen engen Kreis begrenzt. Verwirrung zu stiften, besorgte Zeitgenossen mal zu ängstigen und mal zu beruhigen: das ist kein Zufall, sondern die bewusste Salami-Taktik der Sieger. Die grundsätzliche, bei allen Maßnahmen mitgedachte Stoßrichtung bleibt für die Besatzer auch in den Niederlanden davon unberührt. Während einer Dienstbesprechung im August 1940 erklärte einer der Vertreter des Reichskommissars im kleinen Kreis: »Die Aktion gegen die Juden ist in Vorbereitung und soll in nächster Zukunft durchgeführt werden …« Mochte es in Holland etwas länger dauern, an diesem Ziel gab es keine Abstriche.
Während die wenigen jüdischen Beschäftigten bei der Stadtverwaltung ihre Arbeit verloren, konnte die übergroße Mehrheit der Amsterdamer, egal welchen Glaubens, nicht nur im Theater Carré in der US -Operette »Rose Marie« einem jüdischen Star zujubeln. Ende Oktober kamen aus Scheveningen »Die Prominenten« und spielten ihre Revue »Alles o. k.« im Savoy-Cabaret am Leidseplein. Komponist, Text-Schreiber und Herz dieser Exiltruppe aus Deutschland, die seit 1938 mit großem Erfolg im Kurprogramm von Scheveningen auftrat, war Willy Rosen. Neben Rudolf Nelson gehörte der 1894 in Magdeburg geborene Jude zu den Großen der Berliner Kabarett- und Revue-Szene vor 1933. Als Deutschland am 10. Mai Holland überfiel, gingen Willy Rosen und die meisten seiner Truppe in den Untergrund. Doch schon am 15. Juni standen alle mit der Revue »Kommt und lacht!« wieder auf der Bühne.
»Die Prominenten« waren eine »gemischte« Truppe; Otto Dürer, Franz Engel und Silvia Grohs zählten zu den jüdischen »Prominenten«. Neben der jüdischen Österreicherin Silvia Grohs stand die Sängerin Dora Paulsen im Mittelpunkt. Die nichtjüdische Berlinerin, 1898 geboren, war jahrelang bei Rudolf Nelson aufgetreten, mit seinem Team ins Exil gegangen und hatte 1938 einen Niederländer geheiratet. Am 21. Dezember traten Die Prominenten
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