Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
einen Befehl hatten: zu töten und den Osten und Südosten Europas »judenfrei« zu machen. Am Ende des Jahres 1941 haben die Einsatzgruppen und deutsche Soldaten im Osten hinter der Front mindestens eine halbe Million Juden ermordet.
Die Meldungen aus dem Osten beeinflussten die Mordpläne der Machthaber für das Deutsche Reich und für Europas Westen. Ab Mitte Oktober 1941 erhielten die Juden in Deutschlands Städten als erste die Aufforderung, sich mit vorgegebenem Gepäck zwecks »Evakuierung« und »Ansiedlung im Osten« an Sammelplätzen einzufinden. Ihr Vermögen falle an das Deutsche Reich, sie sollten ihre Wohnungen in ordentlichem Zustand hinterlassen. Es war der Beginn der systematischen Deportationen nach Osten, aus Berlin und München, Düsseldorf und Trier, aus Unterfranken, Sachsen und Westfalen, überall wo deutsche Juden lebten. Die Sonderzüge der Deutschen Reichsbahn brachten die Juden in Gettos und Arbeitslager, nach Litzmannstadt/Lodz, Riga oder Kowno. Wer dort die unmenschlichen Bedingungen überlebte oder nicht sofort erschossen wurde, kam anschließend in ein Vernichtungslager. In diesem Herbst entstanden die Vernichtungslager Sobibor, Treblinka, Belzec und Auschwitz-Birkenau, und die ersten »Tötungs-Experimente« mit Gas wurden dort durchgeführt; Voraussetzungen für den industrialisierten Massenmord.
Die Schaffung »judenfreier« Räume im Osten und die Deportationen aus Deutschland bestimmten das Aktions-Tempo für die »Endlösung« in den besetzten Niederlanden. Im Herbst bekam die Zentralstelle für jüdische Auswanderung ( ZjA ), die seit dem Frühjahr in Amsterdam vor sich hindümpelte, mit Willy Lages, dem Amsterdamer SD -Chef, eine neue oberste Führung. Sein engster Mitarbeiter, für die organisatorische und praktische Durchführung zuständig, wurde Hauptsturmführer Ferdinand aus der Fünten. Seit 1939 leitete Adolf Eichmann, der 1938 in Wien die ersten ZjA organisiert hatte, die sogenannte Reichszentrale für Auswanderung in Berlin. In diesem Amt mit der betrügerischen Bezeichnung koordiniert er in den folgenden Jahren die Vernichtung von Europas Juden, bis hinunter zu den Zügen und Fahrplänen.
Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Amsterdam erhält den Auftrag »für die Durchschleusung von Juden als Vorausmaßnahme für die kommende Aussiedlung« zu sorgen. Ausgehend von Hitlers Entschluss, den »größten Teil der in den Niederlanden sesshaften Juden zu entfernen«, angefangen mit den rund 20 000 »Emigrantenjuden«. Dass »Aussiedlung« gleich »Endlösung« gleich »Vernichtung« bedeutet, ist ein gut gehütetes Geheimnis der Besatzer. Um die Arbeit unter den Tätern besser zu koordinieren und die Wege zu verkürzen, zieht die ZjA im November in eine beschlagnahmte Schule am Adama van Scheltemaplein, schräg gegenüber der Zentrale des SD in der Euterpestraat.
November 1941: Es ist der Monat, in dem die Amsterdamer Juden die ersten Premieren in der Joodse Schouwburg erleben und ein wenig aufatmen. Endlich gibt es einen Ort in der Stadt, wo sie die Welt draußen vergessen können, sich bei den Revuen vergnügen oder sich im Sinfoniekonzert von Mendelssohns Musik berühren lassen. Ein Lichtblick inmitten von so viel nie gekannter Schrecklichkeit und Demütigung, für das Publikum wie für die Akteure: »Wir können zaubern, unser Publikum verzaubern«, schreibt in ihren Erinnerungen Silvia Grohs, seit der ersten Premiere umjubelter Star in allen Revuen der Joodse Schouwburg. »Die Leute kommen mit solcher Begeisterung zu uns, dass sie uns inspirieren, uns ständig in Höchstform zu zeigen … Wenn ich zum Applaus vor den Vorhang trete, umgibt mich ein Blumenmeer, dessen Duft ich einatme.« Kehrt die Grohs in ihre Garderobe zurück, liest sie auf den Karten an den Blumensträußen: »Danke, dass Sie uns die dunklen Tage aufhellen … Solange wir Sie und die Schouwburg haben, werden wir nicht verzweifeln …« Der Star wird nicht nur mit Blumen sondern auch mit edlen Stoffen, Schuhen, Pelzen überhäuft – und noch mehr: »Sogar meine Unterwäsche wird eigens für mich hergestellt – aus Crêpe de Chine, Satin und Seide. Ich muss überhaupt nichts mehr kaufen.«
Der sechste Tag im Dezember ist jedes Jahr in den Niederlanden der wichtigste Tag: Sinterklaas kommt, im vollen Bischofsornat, und mit ihm der Zwarte Piet, in Deutschland Knecht Ruprecht. 1941 betrat der heilige Nikolaus die Hauptstadt schon am 5. Dezember. Er feierte erst einmal im Theater
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