Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Liegestuhl auf der Veranda in der Sonne, da geht die Klingel. Ein Bote überbringt einen Brief, den Margot, die sechzehnjährige Schwester, in Empfang nimmt. Im Laufe des Nachmittags erfährt Anne Frank, dass Margot »einen Aufruf« zur Arbeit in Deutschland bekommen hat. Durch das Gespräch mit dem Vater vorbereitet, weiß Anne: Die Schwester wird nicht gehen. Sie alle werden sich nicht »schnappen lassen« von den Deutschen. Die beiden Schwestern beginnen, ihre Schultasche »mit dem Nötigsten« vollzustopfen. Als Otto Frank um 17 Uhr nach Hause kommt, fällt die endgültige Entscheidung. Morgen in aller Frühe wird die Familie untertauchen, denn die Aufforderung besagt, dass sich Margot Frank am 8. Juli auf der Zentralstelle für jüdische Auswanderung am Adama van Scheltemaplein 1 melden soll.
So wie Margot Frank erhalten an diesem Sonntag insgesamt 350 Juden in Amsterdam, ausschließlich deutsche Emigranten, die schriftliche Anweisung, sich drei Tage später bei der Zentralstelle zu melden. Über das Lager Westerbork sollen sie zum Arbeitsdienst nach Deutschland gebracht werden. Wie die Briefe ihre Empfänger erreichten, darüber gibt es unterschiedliche Überlieferungen. »Die Briefzusteller, welche die eingeschriebenen Aufforderungen verteilten, wurden verprügelt und nach ein paar Tagen unter Polizeischutz gestellt,« schreibt Mirjam Levie, die Augenzeugin. In einigen Fällen waren es Angestellte der städtischen Post, die für die Extra-Lieferung ausgeschickt wurden. Dabei ging es auch friedlich zu, wie wir aus Anne Franks Tagebuch wissen. Nach neuesten Recherchen können die überkommenen Beschreibungen korrigiert und präzisiert werden.
Im Jüdischen Rat wurden die Namen der Juden, die für den Einsatz ausgewählt waren, nebst Adresse auf vorgedruckte Karten geschrieben und zur deutschen Zentralstelle für jüdische Auswanderung gebracht. Die ZjA leitete die Karten weiter ans Büro für Jüdische Angelegenheiten der Amsterdamer Polizei. Das Büro wiederum verteilte die Aufforderungen an die Polizeireviere in den betreffenden Stadtvierteln, wo der diensthabende Inspekteur für die Ablieferung sorgen musste.
Ein Inspekteur vom Revier am Jonas Daniel Meijerplein, mitten im Judenviertel, hat Jahre später zu Protokoll gegeben, wie es bei ihm abgelaufen ist, nachdem er zwanzig Aufrufe zum Verteilen bekommen hatte. Er rief bewusst vier »gute« Kollegen zu sich, die keinerlei Sympathie für die Nationalsozialisten oder die Besatzer hatten und sagte ihnen: »Das ist zwar eine miese Arbeit, aber wir müssen sie ausführen.« Dann beschlossen sie ein einheitliches Vorgehen, um den Betroffenen Gelegenheit zum Verschwinden zu geben. Sie gingen zu der vorgegebenen Adresse, klingelten oder klopften an die Haustüre, liefen aber nicht – was sie üblicherweise taten – direkt durch bis in die Wohnung, sondern riefen »Polizei, ist der oder diejenige zuhaus?« und warteten erst einmal. Kam dann nach einiger Zeit der Ruf »Er oder sie ist nicht zuhause«, gingen sie weiter und gaben den Brief ab mit der Bemerkung: »Sag ihm mal, dass er vorbeikommen soll.«
Nicht verwunderlich, dass die Polizisten von den zwanzig Angeschriebenen nur vier persönlich antrafen. Das war am 5. Juli. Drei Tage später beschloss das Büro für Jüdische Sachen, diese aufwendige und offensichtlich wenig erfolgreiche Übermittlung einzustellen. Die betroffenen Juden erhielten per Post eine Anweisung, sich im nächsten Polizeirevier einzufinden und dort die Aufforderung persönlich abzuholen.
6. Juli – Um halb sechs ist Wecken bei Familie Frank am Merwedeplein 27 in Amsterdam Zuid. Zuerst macht sich Margot mit ihrem Rad, das sie nicht abgeliefert hatte, als die Juden im Juni dazu aufgefordert wurden, auf den Weg. Ohne Stern, sonst wäre sie aufgefallen. Um halb acht Uhr schließt Otto Frank die Wohnungstür und geht mit seiner Frau Edith und Tochter Anne quer durch die Stadt zu Fuß ins Jordaanviertel. Sie tragen den gelben Stern und dürfen deshalb nicht die Straßenbahn nutzen. Jetzt erst erfährt Anne Frank, wo sie untertauchen werden – im Hinterhaus von Otto Franks ehemaligem Bürogebäude, Prinsengracht 263, in enger Nachbarschaft zur imposanten Westerkerk.
Auf diesen Montag, den 6. Juli, hatte sich Anne Frank besonders gefreut: Die Schulferien begannen, nachdem am Freitag im Jüdischen Lyzeum die »Versetzungsfeiern« samt Zeugnisvergabe das große Thema waren. Während Anne Frank im Hinterhaus untertauchte, kamen auch am
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