Leben statt kleben
freigehalten; alle Freizeittermine abgesagt, die zur lästigen Pflicht geworden sind.
Und wenn wir schon mal dabei sind, nicht nur den Terminkalender entmüllen, sondern auch die viel zu lange Liste mit Erwartungen an uns selbst. Reality check: Passen Fähigkeiten und Ambitionen zusammen? Ein Rennpferd hat Spaß am Galoppieren, einer Schildkröte liegt ein anderes Tempo im Blut. Beide leben ihre ureigene Geschwindigkeit und kommen deshalb ans Ziel. Wenn wir aus Zeitlupe geschnitzt sind, ist die Überholspur eher ungemütlich. Efeu zeigt uns, wie man langsam über sich hinauswächst. Mal innehalten, nicht immer weiter rennen. Stehen lernen wie ein Baum. Kein gewaltsames Verbiegen, auch beim Tempo gibt es kein besser oder schlechter.
Wenn bei einer Clearing Session das Steckenbleiben droht, Pause machen oder aufhören. Zwingen wir uns nicht in einen Rhythmus, der uns nicht liegt. Manche sind von Natur aus Macher, die sich nur lebendig fühlen, wenn sie sieben Projekte gleichzeitig am Laufen haben. Andere sind kontemplativ, lieben das Bewahren, die Prozesse, die Beschaulichkeit. Wir brauchen beides. Trauen wir uns, unserem Typ gemäß zu leben. Wie der gelassene Holzfäller. Während sein Kollege ohne Pause durchschuftet, unterbricht er ab und zu, um hinter die Hütte zu verschwinden. Am Abend hat der Akkordarbeiter 27 Bäume gefällt, der Beschaulichere 37. Die Antwort auf die fassungslose Frage, was er denn in den Pausen gemacht habe? Die Axt geschärft.
Manchmal sind wir am Ende, bevor wir angefangen haben. Möchten aufgeben im Verpflichtungsmarathon, Zielgerade nirgends in Sicht. Aber selbst Stress hat Vorteile. In einer Busyaholicoder Märtyrerrolle fühlen wir uns gebraucht oder besser als andere, was zum Antriebsstoff werden kann. Stress ist nützlich, um Entscheidungen auszuweichen oder Verantwortung zu vermeiden. Wir können andere bestrafen oder Aufmerksamkeit ergattern. Schautmal-alle-her!, wie ich hier wieder schufte. Vielleicht gestehen wir uns erst am Limit eigene Bedürfnisse zu. Tun erst in der Zeit einer Krankheit etwas für uns selbst, hören erst dann auf zu funktionieren. Körperliches Unwohlsein als einzig gesellschaftlich akzeptierter Ausweg zu Ruhe und Erholung. Warum können wir nicht in der Arbeit anrufen und sagen „Mir geht’s heute nicht so gut, irgendwie ist mir gerade alles ein bisschen zu viel.“ Nein, es muss eine ärztlich attestierte Körperpanne sein. Kopfschmerzen als Problem akzeptiert, Grübeln nicht. Subtilere Blockaden manifestieren sich erst nach einiger Zeit als körperliche Symptome.
Wir können dem Stress jederzeit an den Kragen gehen und Lachen und Lebensfreude wieder ausgraben unter den Bergen von Verpflichtungen, unter denen wir sie gerne mal beisetzen. Kleine spontane Verrücktheiten einbauen – worauf hätten Sie Lust? Einen Nachtspaziergang? In den nächsten Bus einsteigen und sehen, was es an der Endstation zu entdecken gibt? Außerirdische auf einen Kaffee einladen? Sobald wir vom Planeten Erde erzählen, große Begeisterung, interessierte Fragen. „Wie fühlt es sich an, auf Pyramiden zu stehen, über Berge zu klettern, in Ozeane abzutauchen?“ „Keine Ahnung, aber ich kann Euch genau erzählen, was die letzten 25 Jahre im Fernsehen lief!“ Im Durchschnitt haben wir im Alter von 60 Jahren 15 davon vor Flimmerkästen verbracht. Komfort ist ein gefährlicher Freund, der erst ablenkt und dann einschläfert. Wollen wir eigenen Ideen nachgehen oder die anderer konsumieren? Dieser Tag wird nie wieder kommen.
Niemand kann Zeit managen. Aber wir können eigene Erwartungen steuern und uns eine Haltung auswählen, wie wir durch den heutigen Tag gehen. Gelassen? Voller Freude? Offen für Neues, für Abenteuer? Freundlich zu allen, denen wir begegnen? In Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens?
Aufschieberitis
Oft verbringen wir mehr Zeit damit, darüber nachzudenken etwas (endlich) zu tun, als es dauert, diese Sache zu erledigen. „Jetzt räume ich dann mal diese Papiere vom Schreibtisch / rufe X an / hänge das Bild auf“ – eine Sache von drei Minuten. Aber wir sind locker im Stande, uns wochenlang vorzusagen: „Bald. Morgen. Gleich!“ Psychologische Hintergründe können Versagensangst sein oder ein Rebellionsakt, dem inneren Erwachsenen eins auswischen zu wollen mit erfrischender Anarchie. Leider stellen wir uns nur selbst ein Bein. Wenn wir die To-Do-Liste hinter den Horizont in die Unendlichkeit abdriften lassen, hat das negative Auswirkungen auf unsere
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