leben, sterben, tanzen, leiden (German Edition)
krä f tig schlucken. Als sie schließlich den halb zerkauten Brocken mit der Zunge hinunterbefördert ha t ten, begann der Druck im Magen größer zu werden. „Nicht schlingen“, sagte Franz, „langsam essen.“ Ian hatte keinen Hunger und sparte sich sein E s sen auf.
Ian spürte noch immer seinen Bauch und das s etwas g e waltig darin rumorte; wahrscheinlich war es die Aufregung. Ganz sicherlich war es sogar die Aufregung. Weder Tag noch Stunde benennen zu können, dehnte die Zeit ins U nermessliche. Die letzte Wärme des Tages – so schien es – und die angenehme Waldluft ließen ihn noch durchatmen . Er atmete tief in seinen Unterleib ein. Im san f ten Rhythmus verlangsamte sich sein Puls schlagartig. Ian betrachtete seine Füße während des Marsches, dann sah er seine Arme an, leblos baumelten sie an ihm herunter , als wären keine Knochen vorhanden . Ian wurde von Markus dabei beobac h tet .
„Was tust du?“, fragte Markus .
„Ich kann das nicht glauben“, sagte Ian. „Ich muss i r gendwie sehen , ob das real ist. Ich kann es ei nfach nicht … g-l-a-u-b-e-n “ , sagte er leise, fast träge und seine Augen wurden dabei immer schmaler.
„Das kann wohl niemand von uns.“
„Aber wieso? Ich gehe gewisse Szenen immer und i m mer wieder durch. Ich stelle mir den Brief vor, höre in Gedanken das Gewinnspiel. Es ist kein Scherz und dieses Gewinnspiel ist einmal pro Jahr, für so einen Milliarde n konzern eigentlich kein Aufwand. Was ich sagen möchte ist, dass wir nicht die E rsten sind, ich habe schon einmal mitgemacht … und nicht gewonnen … aber jetzt habe ich gewonnen. Und der Hauptgewinn ist … scheiße ve r dammt, verdammte Scheiße.“
Christiane sagte nichts, sagte nicht, dass sie sogar eine Person kannte, die letztes Jahr ein G e winnspiel von L.S.T.L.-Tours gewonnen hatte und sie hatte seither nichts mehr von ihr gehört. Ni e mehr. Sie bat im Geiste um Vergebung.
„ Was passiert mit unseren Leichen? Sie können uns nicht einfach in Luft auflösen. Wir sind Menschen, wir sind existent. Was sagen sie unseren Hi n terblie benen? Ich werde Vater, meine Freundin ist schwanger, soll sie ohne Eh e mann ihr Kind großziehen? Ich lebe noch. Noch lebe ich, hier, ich kann …, ich bin nicht tot. W a rum tun die das?“
„Beruhige dich , Ian, beruhige dich“, hatte Markus gesagt und Mischa bat ebenso darum. M i scha ging mit Christiane ein paar Schritte vor Markus und Ian, die jetzt das Schlusslicht bildeten. Ma r kus , d er um gut 15cm größer war als I an, sah auf ihn herab und sagte etwas leiser: „Ich ve r stehe , was du durchmachst. Ich selbst realisiere diese Situation genauso wenig wie du, und ständig muss ich daran denken, dass ich beichten möchte, vielleicht weil ich weiß, dass es bitte r böse enden kann, wird, muss … ich weiß es nicht. Du sagst es selbst: Noch leben wir, noch sind wir nicht tot. Und deshalb gebe ich Franz recht! Ich werde kämpfen und nicht so einfach aufgeben . Ich werde käm p fen.“
Ian nickte, wahrscheinlich war die Botschaft Markus’ noch nicht angekommen. E r hatte recht, irgendwie. Irgendwie musste man sich gegen solche mensche n unwürdigen Spiele wehren können .
Mischa sah Christiane an und sagte: „Möchtest du reden ? Mir kommt vor, ich sehe ständig deine Mundwinkel in Bewegung , es kommt aber nichts heraus .“
„Ich … ich bitte gerade um Vergebung “ , sagte sie traurig und an dieser Stelle knickten ihre Mundwinkel ein und bildeten tiefe Falten.
Mischa war etwas erstaunt. Sie dachte daran, dass die gutherzigsten Menschen immer die E rsten waren, die um Vergebung baten. Ein Anruf bei Rat auf Draht hätte siche r lich auch gereicht.
„Ich … mmm“, Christiane verließ der Mut. Eine Träne kam ihr über die Lippen gerollt, als wollte sie vor ihr flüchten.
„Christiane , was ist ? Komm schon, erleichtere dich, wenn du um Vergebung bitten möchtest “ , ihre Aufforderung klang eher inquisitorisch als besorgt. Mischa dachte daran – wie einfältig, jung und dumm man auch sein mochte – zu glauben , dass Christiane etwas zu beichten hätte , kam ihr nicht in den Sinn . Vielleicht erzählte sie jetzt eine Geschichte über einen überfahrenen Igel aus ihrer Jugendzeit , für de s sen Tod sie sich jetzt schämte.
„Ich habe meinen Mann jahrelang erpresst. Wenn er lächeln wollte, musste er in den Keller g e hen. Seine Bezi e hung en , die er zu anderen Männern hatte , habe ich auf raffinierte Art und W ei s e über
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