leben, sterben, tanzen, leiden (German Edition)
einmal mehr daran glauben , sich irgendwie wehren zu können.
Er ging hinter Misc ha und Markus , sie hielten Hä nd e . Ach, wie einfühlsam, dachte er. E s würde ihnen nichts nützen. Ja, die Stunde war gekommen , sich zu entscheiden, für wa s genau ? Für das Leben? Weglaufen nütz t e nichts, die konnten ihn finden. War er doch ihr Gefangener. Er konnte immer und überlall geortet werden. Selbst wenn er jetzt, hier und jetzt, seinem Leben ein Ende setzten würde, wem wäre gedient? Niemand konnte sagen, wer heil aus diesem Schlamassel en t kam, niemand, deshalb musste er weiterleben, um es herauszufinden. O b wohl, er dachte an das Wort H eil , was für ein langweiliges Wort. Heil en könnte ihn nur seine Familie, die ihn den Schmerz, den er erlebt hatte, vergessen ließ . Er würde Zeit seines Lebens die Firma L.S.T.L. ve r abscheuen. Stand er vo r her dem Reiseunternehmen sehr wohlwollend entge gen . Ian dachte sogar daran, dass sie seine Gedanken lesen konnten . Ian versuchte seine Gedanken zu ordnen, wirr waren sie, wirr. Und irgendwo in ihm, dort wo Ursache und Wirkung sich gegenseitig aufh o ben und Logik niemals das Bewusstsein herausfordert, dort, wo Gedanken sich frei entfalteten und sich gege n einander ausspielten, genau dort fielen die Fakten an ihren Platz, und er sagte: „Ich habe Angst.“ D ie Worte waren so leise gesagt, dass sie niemand hörte .
Durc h die hohen Bäume und Sträucher , die ab und zu am Boden wucherten, sah er, dass die Sonne tiefer und tiefer ihre letzten Strahlen abgab. Wie eine geknickte Frau kam sie ihm vor, die sich mit ihrem Buckel langsam hinter einem Berg zu verabschieden drohte. Er wünschte sich, die Sonne würde noch bleiben. Er wünschte , er könnte sie noch ein einziges Mal hochschieben, Mi t tagszeit aus ihr machen. Schweiß drang aus all seinen Poren. Die Nacht kroch langsam, jedoch zielbewusst heran . Das Ziel, es war noch nicht erreicht . Es dauerte noch. Es dauerte noch schrecklich lan ge. Waren die Ziele so weit von einander entfernt, dass man sie gar nicht in der vorgegebenen Zeit – während der Tagesstunden – e r rei chen konnte?
„Ich hab euch lieb“, sagte Ian plötzlich. Er hatte den Wunsch etwas Liebes zu sagen.
Mischa kam auf ihn zu und umarmte ihn. Ihr weißes Gesicht, das sie bei m ersten Zusam me n treffen hatte – Bilder schossen ihm durch den Ko pf – wirkte jetzt grau, dreckig und braun. Sie versuchte zu lächeln , für ihn , die Kraft dafür schwand jedoch auch . Ihr schlanker Körper wirkte au s ge zehrt und ma ger. H atte n sie schon vor ihrem Fußmarsch nicht viel an Essen mit auf den Weg bekommen , so war dies längst verbraucht und Hunger und Durst überkam sie in wellenart i gen Rhyt h men.
„Wir schaffen das, Ian, wir müssen. Wir werden kämpfen.“
Ian nickte. Markus umarmte beide. Seine langen Arme umschla n gen seine Freunde. „Ich hab euch auch lieb“, sagte er.
Sie machten sich wieder auf den Weg. Getrieben von dem Wunsch , dass es noch Hof f nung für sie gäbe.
Die Hände von Mischa waren dreckig und die Gelegenheiten sie zu waschen, waren rar gewesen. Sie rieb ihre Handflächen aufeinander. D er Dreck wollte nicht abgehen. Sie betrachtete ihre L e benslinie, Schicksalslinie und Herzl i nie oder wie die alle hießen. – Diese Linien , von denen viele glauben, die Persönl ichkeit einzelner Menschen auf schlüsseln zu können , waren dreckig und sie schüttelte ihre Hände. D er Dreck wollte nicht weggehen, er blieb haften , wurde eins mit ihrer Haut . Da fra g te sie sich, ob ihre Lebenslinie, die wie ein dreckiges Rinnsaal auf einer Landkarte aussah , am Ende wirklich ihr L e ben widerspiegelte.
Plötzlich läutete das Handy. – Schmerz und Angst hangen wie Fäden, die eine emsige Spinne g e sponnen hatte, zwischen ihnen.
Markus hatte es eingesteckt, nahm es aus seiner Hosentasche und Mischa riss es ihm aus der Hand.
„Hallo?“, sagte sie in ihre m letzten bisschen Hoffnung, die sie für so lch eine Aktion noch übrig hatte.
„Hallo?“, sagte sie wieder.
Und es ertönte mit fröhlicher Stimme : „L.S.T.L., Ihr Partner für Ihr Leben. Wir sind ein Unte r nehmen …“, die Frauenstimme wurde von einer an d e ren Frauenstimme abgewürgt.
„Jetzt hören Sie mi r mal zu, verdammte Scheiße , Sie … Glauben Sie uns interessiert hier und jet zt der Werbeslogan von L.S.T.L.? W ir möchten hier raus , verdammt. Hier raus. Hast Sie mich ve r stan den, Sie, Sie Drecksau ?“
„L.S.T.L.
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