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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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ich also sieben und vier addieren, nehme ich der Sieben zwei weg, addiere die Vier mit der verbliebenen Fünf und gebe am Ende wieder die Zwei, die ich mir gemerkt habe, hinzu: elf! Multiplizieren ging bei mir immer schief, weil ich dabei die Zahlen vergaß, die ich mir merken musste. Der Algebra habe ich meine besten Vorsätze gewidmet, nicht nur aus Respekt vor ihrer klassischen Herkunft, sondern auch, weil ich den Lehrer liebte und fürchtete. Es war zwecklos. Jedes Trimester fiel ich durch, holte es zweimal nach und versagte bei einem weiteren unerlaubten Versuch, den sie mir aus Barmherzigkeit gestatteten.
    Selbstloser noch waren die drei Sprachlehrer. Der erste - für Englisch - war Mister Abella, ein waschechter Karibe mit einem perfekten Oxford-Akzent und einem geradezu religiösen Eifer, was Webster's Wörterbuch anging, aus dem er mit geschlossenen Augen zitierte. Sein Nachfolger war Héctor Figueroa, ein junger, guter Lehrer mit einer fiebrigen Leidenschaft für die Boleros, die wir mehrstimmig in den Pausen sangen. Ich gab mein Bestes im einschläfernden Unterricht und in der Schlussprüfung, glaube aber, dass ich meine gute Note weniger Shakespeare als vielmehr den Schnulzen von Leo Marini und Hugo Romani zu verdanken hatte, die für so viele Liebeswonnen und Liebestode verantwortlich zeichneten. Der Französischlehrer im vierten Jahr, Monsieur Antonio Yelá Alban, sah das Gift der Kriminalromane in mir wirken. Seine Unterrichtsstunden langweilten mich ebenso alle anderen, aber seine zweckdienlichen Abstecher ins Straßenfranzösisch halfen mir fünfzehn Jahre später dabei, in Paris nicht zu verhungern.
    Die Mehrzahl der Lehrer war auf der Escuela Normal Supenor unter der Leitung von Dr. José Francisco Socarrás ausgebildet worden, einem Psychiater aus San Juan del César, der sich bemühte, die klerikale Pädagogik eines ganzen Jahrhunderts konservativer Regierungen durch einen humanistischen Rationalismus zu ersetzen. Der Zusammenprall dieser Richtungen war im Liceo zu erleben. Manuel Cuello del Rio war ein radikaler Marxist, der jedoch Lin Yutang bewunderte und an die Erscheinung der Toten glaubte. In der Bibliothek von Carlos Julio Calderón, in der sein Landsmann José Eustasio Rivera, Autor von Der Strudel, den Ehrenplatz einnahm, standen griechische Klassiker, einheimische Dichter von Piedra y Cielo und Romantiker aus aller Welt gleichberechtigt nebeneinander. Dank der verschiedenen Lehrer lasen wir, die wenigen Leseratten, sowohl den Barockdichter San Juan de la Cruz wie den populären Romancier José Maria Vargas Vila, aber auch die Apostel der proletarischen Revolution. Gonzalo Ocampo, der Gesellschaftswissenschaften lehrte, hatte in seinem Zimmer eine gut sortierte politische Bibliothek, die er ohne Hintergedanken in den Klassenräumen der älteren Schüler zirkulieren ließ, wobei ich allerdings nie begriff, warum Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates an den öden Nachmittagen für Politische Ökonomie studiert wurde und nicht im Literaturunterricht als wunderbare Epopóe eines Abenteuers der Menschheit. Guillermo López Guerra las in den Pausen den Anti-Dühring von Engels, den er sich von Gonzalo Ocampo ausgeliehen hatte. Als ich den jedoch um das Buch bat, weil ich mit López Guerra darüber diskutieren wollte, sagte er mir, diesen schlechten Gefallen wolle er mir nicht erweisen, da es sich zwar um einen Wälzer handele, der grundlegend für den Fortschritt der Menschheit sei, aber so dick und langweilig, dass er wohl kaum in die Geschichte eingehen werde. Solch ideologischer Austausch hat vielleicht dazu beigetragen, dass dem Liceo nachgesagt wurde, ein Labor politischer Perversionen zu sein. Ich brauchte ein halbes Leben, um zu begreifen, dass diese spontane Erfahrung wohl eher dazu gedient hat, die Schwachen abzuschrecken und die Starken gegen jede Art von Dogmatismus zu impfen.
    Die unmittelbarste Beziehung hatte ich immer zu Carlos Luis Calderón, der in den ersten drei Klassen Spanisch unterrichtete, Weltliteratur in der vierten, spanische Literatur in der fünften und kolumbianische Literatur in der sechsten. Und noch ein weiteres, für seine Ausbildung und seinen Geschmack merkwürdiges Fach: Buchführung. Geboren war er in Neiva, der Hauptstadt des Bezirks Huila, und er wurde nicht müde, seine patriotische Begeisterung für José Eustasio Rivera kundzutun. Er hatte sein Medizin- und Chirurgie-Studium abbrechen müssen, was er als die Enttäuschung

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