Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
Vom Netzwerk:
seinem gut beleuchteten Alkoven am Eingang des Schlafsaals, und wir brachten ihn manchmal mit realen oder fingierten Schnarchern, die jedoch fast immer berechtigt waren, zum Schweigen. Später wurde dann bis zu einer Stunde vorgelesen, je nachdem, wie interessant die Handlung war, und die Lehrer wechselten sich im Wochenturnus mit Schülern ab. Die guten Zeiten begannen mit Nostradamus und dem Mann in der eisernen Maske, Büchern, die allen gefielen. Was ich mir heute noch nicht erklären kann, ist das lautstarke Interesse, das Thomas Manns Zauberberg entgegengebracht wurde und zu einer Intervention des Rektorats führte, die verhinderte, dass wir in Erwartung eines Kusses zwischen Hans Castorp und Clawdia Chauchat die ganze Nacht wach blieben. Oder die unglaubliche Anspannung, mit der wir alle auf unseren Betten saßen, um kein Wort von den verzwickten philosophischen Gefechten zwischen Naphta und seinem Freund Settembrini zu verpassen. In jener Nacht dauerte die Lesung über eine Stunde und wurde im Saal mit donnerndem Applaus gefeiert.
    Der einzige Lehrer meiner Jugend, der mir ein Rätsel blieb, war der Rektor, den ich bei meinem Eintritt ins Internat antraf. Er hieß Alejandro Ramos, war rau und einsam, trug so dicke Brillengläser wie ein Blinder und hatte eine Autorität, die er nicht zur Schau stellte, die aber wie eine eiserne Faust jedem seiner Worte Gewicht gab. Um sieben Uhr früh kam er aus seinem Refugium herunter, um zu überprüfen, ob wir sauber und ordentlich waren, bevor es in den Speisesaal ging. Er trug untadelige Anzüge in leuchtenden Farben, einen gestärkten Kragen wie aus Zelluloid mit fröhlichen Krawatten und glänzende Schuhe. Jeden Makel in unserer persönlichen Erscheinung quittierte er mit einem Knurren -das war der Befehl, zurück in den Schlafsaal zu gehen, um das Beanstandete in Ordnung zu bringen. Den Rest des Tages über schloss er sich in sein Büro im ersten Stock ein, und wir sahen ihn nicht wieder bis zum nächsten Morgen zur gleichen Uhrzeit, höchstens einmal zwischendurch, wenn er die zwölf Schritte von seinem Büro in den Raum der Abiturklasse ging, wo er dreimal die Woche Mathematik gab - seine einzige Lehrveranstaltung. Seine Schüler sagten, er sei ein Zahlengenie und witzig im Unterricht, und dass er sie mit seinem Wissen in Staunen versetze und ihnen den Horror vor dem Abschlussexamen einbrenne.
    Kurz nach meiner Ankunft musste ich die Eröffnungsrede für irgendeine offizielle Veranstaltung im Liceo schreiben. Die Mehrzahl der Lehrer war mit dem Thema einverstanden, sie waren sich aber darin einig, dass der Rektor in solchen Fällen das letzte Wort habe. Er wohnte im ersten Stock, am Ende der Treppe, aber ich quälte mich auf der Strecke, als handele es sich um eine Bergbesteigung. Ich hatte in der Nacht zuvor schlecht geschlafen, band mir dann die Sonntagskrawatte um und konnte kaum das Frühstück genießen. Ich klopfte so leise an die Tür des Rektorats, dass er mir erst beim dritten Mal öffnete, dann ließ er mich ein, ohne mich zu begrüßen. Zum Glück, denn ich hätte keine Stimme gehabt, um den Gruß zu erwidern, nicht nur wegen seiner Sprödigkeit, sondern auch deshalb, weil das Büro so imponierend, so ordentlich und so schön war mit seinen samtbezogenen Möbeln aus edlen Hölzern und der staunenswerten Bibliothek, deren ledergebundene Bände die Wände bedeckten. Der Rektor wartete mit gemessener Förmlichkeit darauf, dass ich wieder zu Atem kam. Sodann zeigte er auf den zweiten Sessel vor dem Schreibtisch und setzte sich auf den eigenen.
    Ich hatte die Begründung für meinen Besuch beinahe ebenso gut vorbereitet wie die Rede. Er hörte sie sich schweigend an, billigte jeden Satz mit einem Nicken, schaute aber immer noch nicht mich, sondern stattdessen das Papier an, das in meiner Hand zitterte. An irgendeinem Punkt, den ich für witzig hielt, versuchte ich, ihm ein Lächeln zu entlocken, doch vergeblich. Mehr noch: Ich bin sicher, er war schon auf dem Laufenden, was den Zweck meines Besuches anging, ließ mich aber den Ritus der Begründung erfüllen.
    Als ich fertig war, streckte er die Hand über den Schreibtisch und nahm die Seiten entgegen. Er setzte die Brille ab, um den Text mit großer Aufmerksamkeit zu lesen, und hielt nur inne, um mit seiner Feder zwei Korrekturen einzutragen. Daraufhin setzte er die Brille wieder auf und sprach, ohne mir in die Augen zu blicken, mit einer steinernen Stimme, die mein Herz erschütterte:
    »Hier gibt es

Weitere Kostenlose Bücher