Leben, um davon zu erzählen
seines Lebens ansah, aber seine unwiderstehliche Leidenschaft für die Literatur und die Künste blieb davon unberührt. Er war mein erster wirklicher Lehrer und der einzige, der meine Entwürfe mit treffenden Anmerkungen zerpflückte.
Die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern waren jedenfalls von einer außerordentlichen Natürlichkeit, nicht nur im Unterricht, sondern erst recht auf dem Pausenhof nach dem Abendessen. Das erlaubte einen anderen Umgang, als wir ihn gewöhnt waren, was zweifellos das Klima des Respekts und der Kameradschaftlichkeit begünstigte, in dem wir lebten.
Ein Abenteuer voller Schrecken verdanke ich den Gesammelten Werken von Freud, die neu in die Bibliothek gekommen waren. Natürlich verstand ich nichts von seinen heiklen Analysen, aber seine Fallstudien las ich wie die Phantasien von Jules Verne atemlos zu Ende. Im Spanischunterricht forderte uns Lehrer Calderon auf, eine Geschichte zu schreiben, das Thema war freigestellt. Mir fiel die Geschichte einer geisteskranken Siebenjährigen ein, und der Titel, den ich wählte, lief der Poesie zuwider: Ein Fall von psychotischer Obsession. Der Lehrer ließ mich die Geschichte im Unterricht vorlesen. Mein Banknachbar Aurelio Prieto nahm kein Blatt vor den Mund, er tadelte die Anmaßung, die darin liege, ohne die geringste wissenschaftliche oder literarische Vorbildung über ein so abgelegenes Thema zu schreiben. Ich erklärte ihm mit mehr Verbitterung als Bescheidenheit, dass ich von einer Fallstudie in Freuds Memoiren ausgegangen sei, und zwar mit keinem anderen Anspruch, als sie für diese Aufgabe zu verwenden. Lehrer Calderón, der vielleicht glaubte, ich sei von der harschen Kritik einiger meiner Klassenkameraden getroffen, nahm mich in der Pause beiseite und ermunterte mich, auf eben dem Weg fortzufahren. Es sei meinem Text anzumerken, dass mir die Techniken moderner fiktionaler Prosa unbekannt seien, aber er vermittele meinen literarischen Instinkt und die Lust am Schreiben. Calderón fand die Erzählung gut geschrieben und wenigstens von der Absicht her originell. Zum ersten Mal sprach er mit mir über Rhetorik. Er verriet mir einige inhaltliche und metrische Tricks, um unprätentiöse Verse zu schmieden, und schloss mit dem Ratschlag, ich solle auf alle Fälle weiterschreiben, und sei es nur der geistigen Gesundheit zuliebe. Das war das erste von vielen langen Gesprächen, die wir in meinen Jahren am Liceo führten, in den Pausen und in anderen freien Stunden, und diesen Gesprächen schulde ich viel in meinem Schriftstellerleben.
Das Klima war für mich ideal. Seit dem Colegio San José war mir das Laster, alles und jedes zu lesen, so zur zweiten Natur geworden, dass ich meine Freizeit und fast die ganzen Unterrichtsstunden darauf verwendete. Mit meinen sechzehn Jahren - mit oder ohne gute Orthografie - konnte ich immer noch, ohne Luft zu holen, die Gedichte aufsagen, die ich im Colegio San José gelernt hatte. Ich las sie und las sie wieder, ohne Anleitung und ohne System und fast immer heimlich im Unterricht. Die unbeschreibliche Schulbibliothek habe ich, glaube ich, vollständig gelesen. Sie bestand aus den Resten anderer, weniger nützlichen Büchersammlungen: offiziellen Reihen, Hinterlassenschaften von resignierten Lehrern, unvermuteten Raritäten, die aus wer weiß welchen Schiffbrüchen dort gestrandet waren. Unvergesslich ist mir die Biblioteca Aldeana aus dem Minerva Verlag, eine Sammlung, die unter der Schirmherrschaft von Daniel Samper Ortega herausgegeben, vom Erziehungsministerium in den Schulen verteilt wurde. Es waren hundert Bände mit dem Guten und dem Allerschlimmsten, was bis dahin in Kolumbien geschrieben worden war, und ich nahm mir vor, alles der Reihe nach zu lesen, soweit die Seele trug. Bis heute beängstigt mich, dass ich dieses Pensum in den beiden letzten Schuljahren zwar fast geschafft habe, in meinem restlichen Leben aber nicht habe herausfinden können, ob die Lektüre zu etwas nutze war.
Der Tagesanbruch im Schlafsaal war der Glückseligkeit verdächtig ähnlich, wenn man von der tödlichen Glocke absah, die um sechs Uhr Mitternacht - wie wir zu sagen pflegten - Sturm läutete. Nur zwei oder drei geistig Minderbemittelte sprangen aus dem Bett, um im Bad hinter dem Schlafsaal unter den sechs Duschen mit eisigem Wasser die Ersten zu sein. Wir Übrigen nutzten die Zeit, um die letzten Tröpfchen Schlaf auszuwringen, bis der diensthabende Lehrer durch den Saal schritt und die Decken von den Schläfern
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