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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Ungleichheit und die Macht einer brutalen Regierung verkörperte. Selbst die Polizisten, die die Ordnung aufrechterhalten sollten, wurden durch eine Mahnung motiviert, die sie ms Gegenteil verkehrten.
    Die Rede von jenem Abend war eine schonungslose Bestandsaufnahme der gewaltsamen Übergriffe des Staates bei seiner Politik der verbrannten Erde zur Unterdrückung der liberalen Opposition; eine noch nicht feststellbare Zahl von Menschen war dabei getötet worden, und die Bewohner ganzer Ortschaften waren in die Städte geflüchtet, und hatten nun kein Dach über dem Kopf und kein Brot zum Essen.
    Nach der fürchterlichen Aufzählung von Morden und Überfällen erhob Gaitán die Stimme immer mehr und gefiel sich Wort für Wort, Satz um Satz in einer grandiosen und effektsicheren Rhetorik. Die Anspannung der Zuhörer steigerte sich im Takt seiner Stimme bis zu einer Explosion, die am Ende in der Stadt widerhallte und durch das Radio bis in die fernsten Winkel des Landes dröhnte.
    Die aufgeheizte Menge strömte unter heimlicher Duldung der Polizei auf die Straße in eine unblutige Feldschlacht. Ich glaube, in dieser Nacht begriff ich zum ersten Mal die Enttäuschungen des Großvaters und die hellsichtigen Analysen von Camilo Torres. Ich staunte darüber, dass die Studenten der Universidad Nacional weiterhin Liberale oder Konservative waren, mit einigen kommunistischen Zellen dazwischen, dass aber die Kluft, die Gaitán quer durchs Land aufriss, dort nicht wahrgenommen wurde. Ich kam betäubt von der Erschütterung der Nacht in die Pension zurück und fand meinen Zimmergenossen friedlich im Bett bei der Lektüre von Ortega y Gasset vor.
    »Ich komme wie neu zurück, Doktor Vega«, sagte ich. »Jetzt weiß ich, wie und warum die Kriege von Oberst Nicolás Márquez begannen.«
    Wenige Tage später, am 7. Februar 1948, nahm ich zum ersten Mal in meinem Leben an einer politischen Kundgebung teil. Gaitán hatte zu einem Trauermarsch für die unzähligen Opfer der offiziellen violencia aufgerufen, zu dem über sechzigtausend schwarz gekleidete Frauen und Männer mit den roten Fahnen der Partei und den schwarzen Fahnen des trauernden Liberalismus gekommen waren. Es gab nur eine einzige Parole: absolutes Schweigen. Und dieses wurde mit ergreifender Dramatik eingehalten, sogar auf den Baikonen der Wohnhäuser und Büros, an denen wir einen guten Kilometer lang auf der verstopften Hauptstraße vorbeizogen. Eine Frau an meiner Seite murmelte zwischen den Zähnen ein Gebet. Ein Mann neben ihr schaute sie befremdet an:
    »Señora, ich bitte Sie!«
    Sie gab einen klagenden Laut der Entschuldigung von sich und versank im Meer ihrer Gespenster. An den Rand der Tränen brachte mich aber das vorsichtige Schreiten der Menge und ihr Atmen in der übernatürlichen Stille. Ich hatte mich nicht aus irgendeiner politischen Überzeugung angeschlossen, mich trieb die Neugier auf die Stille, und nun hatte ich plötzlich einen Kloß im Hals. Auf der Plaza de Bolívar hielt Gaitán vom Balkon des Rechnungshofs aus eine Leichenrede von erschütternder emotionaler Wucht. Entgegen den finsteren Prognosen seiner eigenen Partei gipfelte sie in der Erfüllung der schwierigsten, durch die Parole vorgegebenen Bedingung: Keinerlei Applaus.
    Das war der »Marsch des Schweigens«, ergreifender als jede andere Kundgebung, die in Kolumbien stattgefunden hat. Dieser historische Nachmittag hinterließ bei Anhängern und Feinden den Eindruck, dass der Wahlsieg Gaitáns nicht mehr aufzuhalten war. Auch die Konservativen wussten das, hatte sich doch im ganzen Land die Gewalt verselbständigt, die vom brutalen Eingreifen der regimetreuen Polizei gegen den wehrlosen Liberalismus und von der Politik der verbrannten Erde ausgegangen war. In welch schauriger Gemütsverfassung das Land war, erlebten an jenem Wochenende die Besucher der Stierkampfarena von Bogotá, wo die Zuschauer von den Rängen in das Rund stürzten, empört über die Zahmheit des Stiers und die Unfähigkeit des Toreros, ihn endlich zu töten. Die aufgeputschte Menge vierteilte den Stier bei lebendigem Leibe. Zahlreiche Journalisten und Schriftsteller, die jenen Horror miterlebt oder davon gehört hatten, deuteten ihn als besonders beängstigendes Zeichen für die mörderische Raserei, unter der das Land litt.
    In diesem hoch angespannten Klima wurde am 30. März um halb fünf Uhr nachmittags in Bogotá die Neunte Panamerikanische Konferenz eröffnet. Die Stadt war für dieses Ereignis mit einem

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