Leben, um davon zu erzählen
Handlungen, die mit seiner Eigenschaft als studentischer Aktivist zusammenhingen, ebenfalls Opfer allerlei absurder Anschuldigungen. Nach einem unruhigen Tag zwischen den enthemmten Horden landete er in der schwarzen Nacht bei der fünften Division der Staatspolizei, weil er hoffte, sich bei der Beendigung des Gemetzels auf den Straßen irgendwie nützlich machen zu können. Man muss ihn kennen, will man sich seine Verzweiflung in der aufständischen Festung vorstellen, wo es unmöglich schien, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen.
Er traf sich mit den Kommandeuren der Garnison und anderen aufständischen Offizieren und versuchte vergeblich, sie davon zu überzeugen, dass jede kasernierte Kraft verpufft. Er schlug ihnen vor, ihre Männer in den Straßenkampf zu schicken, mit dem Ziel, die Ordnung für ein gerechteres System wieder herzustellen. Er erinnerte an alle möglichen historischen Präzedenzfälle, wurde aber nicht gehört, während die Festung von Regierungstruppen und Panzern beschossen wurde. Am Ende beschloss er, das allgemeine Schicksal zu teilen.
Nach Mitternacht kam Plinio Mendoza Neira mit Instruktionen der liberalen Führung in die Festung; er sollte eine friedliche Kapitulation der aufständischen Offiziere und Polizisten sowie zahlreicher umherirrender Liberaler erreichen, die nur auf Befehle warteten, um loszuschlagen. In den vielen Stunden der Verhandlung prägte sich Mendoza das Bild eines kubanischen Studenten ein, der, korpulent und diskussionsfreudig, mehrmals vermittelnd in die Kontroversen zwischen liberalen Führern und rebellischen Offizieren eingriff und mit der Klarheit seiner Gedanken alle anderen übertraf. Wer das gewesen war, erfuhr Mendoza erst Jahre später, als er schon in Caracas war und den Kubaner zufällig auf einem Foto der schrecklichen Nacht wiedererkannte. Zu diesem Zeitpunkt war Fidel Castro bereits in der Sierra Maestra.
Ich lernte Fidel Castro elf Jahre später kennen, nachdem ich als Reporter zu seinem triumphalen Einzug in Havanna gekommen war, und wir haben mit der Zeit eine persönliche Freundschaft aufgebaut, die uns über die Jahre und unzählige Schwierigkeiten hinweg erhalten geblieben ist. In meinen langen Gesprächen mit ihm über alles Irdische und Himmlische sind wir oft auf den 9. April zurückgekommen, den Castro immer wieder als eines der Dramen erinnerte, die seine Entwicklung entscheidend beeinflusst haben. Vor allem jene Nacht in der Quinta Division, wo ihm klar wurde, dass die Mehrheit der Aufständischen, die kamen und gingen, sich bei der Plünderung verausgabten, statt sich unbeirrt auf die dringliche politische Lösung zu konzentrieren.
Während diese beiden Freunde bewusste Zeugen der Ereignisse waren, die einen tiefen Einschnitt in der kolumbianische Geschichte bedeuteten, überlebten mein Bruder und ich sie wie blind in der Wohnung von Onkel Juanito, zusammen mit den anderen Flüchtlingen. In keinem Augenblick machte ich mir bewusst, dass ich bereits ein Schriftstellerlehrling war, der eines Tages versuchen würde, aus dem Gedächtnis ein Zeugnis der fürchterlichen Tage, die wir erlebten, zu rekonstruieren. Meine einzige Sorge war höchst irdisch: unserer Familie die Nachricht zukommen zu lassen, dass wir lebten - beziehungsweise noch lebten -, und zugleich zu erfahren, wie es Eltern und Geschwistern ging, vor allem den beiden älteren Schwestern Margot und Aida, die in entfernten Städten im Internat waren.
Dass wir bei Onkel Juanito einen Zufluchtsort gefunden hatten, war ein Wunder. Die ersten Tage gestalteten sich schwierig wegen der ständigen Schießereien und weil keine Nachricht verlässlich war. Allmählich erkundeten wir jedoch die nahen Geschäfte, und es gelang uns, etwas zum Essen zu kaufen. Die Straßen waren von Überfallkommandos besetzt, die strikten Schießbefehl hatten. Der unverbesserliche José Palencia verkleidete sich als Militär, um sich ungehindert bewegen zu können, er trug einen Tropenhelm und ein paar Gamaschen, die er im Müll gefunden hatte, und rettete sich wie durch ein Wunder vor der ersten Patrouille, die ihn entdeckte.
Die kommerziellen Sender, die noch vor Mitternacht zum Schweigen gebracht worden waren, blieben unter der Kontrolle des Heeres. Die wenigen primitiven Telefone waren den Ordnungshütern vorbehalten, und es gab keine anderen Mittel der Kommunikation. Die Schlangen vor den überfüllten Telegrafenämtern waren endlos, doch dann richteten die Radiosender einen
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