Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
Vom Netzwerk:
vorzudringen, und verpasste den letzten Bus nach Cartagena, da er wegen des bevorstehenden Gewitters vorzeitig abgefahren war. Ich machte mir keine weiteren Sorgen um meinen Bruder, da ich sicher war, dass er in der Stadt war, wohl aber um mich, da mir der Gedanke, eine Nacht ohne Geld in Barranquilla zu verbringen, Angst machte. Dank José Palencia fand ich schließlich im Haus der schönen Schwestern Ilse und Lila Albarracin ein Notasyl und fuhr drei Tage später mit dem lahmen Postbus nach Cartagena. Mein Bruder Luis Enrique wollte in Barranquilla bleiben, bis er dort eine Arbeit fand. Ich hatte nur noch acht Pesos, doch José Palencia versprach, mit dem Abendbus nachzukommen und mir etwas mehr mitzubringen. Ich fand keinen freien Platz mehr, nicht einmal einen Stehplatz, doch der Fahrer ließ sich darauf ein, drei Passagiere, die sich auf ihr Gepäck setzen müssten, für ein Viertel des regulären Fahrpreises auf dem Dach mitzunehmen. In einer so seltsamen Lage und unter brennender Sonne ist mir, glaube ich, bewusst geworden, dass an jenem 9. April 1948 in Kolumbien das 20. Jahrhundert begonnen hatte.

6
    Nach einer Tagereise tödlichen gerumpels auf einer Landstraße für Huftiere hauchte der Postlaster seine Seele aus, wie er es verdiente: gestrandet in einem Mangrovengestrüpp, das nach fauligem Fisch roch, eine halbe Meile von Cartagena de Indias entfernt. »Wer im Lastwagen fährt, weiß nicht, wo er stirbt«, erinnerte ich mich an einen Ausspruch meines Großvaters. Die Passagiere, durch sechs Stunden nackter Sonne und den Gestank des Salzmorasts abgebrüht, warteten nicht darauf, dass die Leiter heruntergelassen wurde, sondern warfen hastig die Körbe mit Hühnern, die Bananenbündel und allerlei Verkäufliches oder Unverkäufliches über Bord, das ihnen auf dem Wagendach als Sitz gedient hatte. Der Fahrer sprang vom Trittbrett und rief mit beißendem Spott:
    »La Heroica!«
    Unter diesem emblematischen Namen war Cartagena de indias wegen seiner ruhmreichen Vergangenheit bekannt, und irgendwo musste die Stadt wohl liegen. Aber ich sah nichts, konnte auch in dem Anzug aus schwarzem Tuch, den ich seit dem 9. April trug, kaum mehr atmen. Die anderen beiden Anzüge aus meinem Kleiderschrank waren wie die Schreibmaschine im Pfandhaus gelandet, die ehrenrettende Version für meine Eltern lautete aber, dass die Maschine und andere Gegenstände persönlichen Missbrauchs zusammen mit der Kleidung im Chaos des Brands verschwunden waren. Der unverschämte Fahrer, der sich während der Reise über meinen Aufzug eines Wegelagerers lustig gemacht hatte, wäre fast vor Vergnügen geplatzt, als er sah, wie ich mich weiter um mich selbst drehte, ohne die Stadt zu finden.
    »Sie steckt in deinem Hintern!«, schrie er für alle hörbar. »Und pass ja auf, denn da werden die Arschlöcher ausgezeichnet.«
    Cartagena de Indias lag tatsächlich hinter mir, und dort schon seit vierhundert Jahren, aber inmitten des Mangrovengestrüpps fiel es schwer, sich vorzustellen, dass die Stadt nur eine halbe Meile entfernt hinter der legendären Festungsmauer versteckt war, die sie in ihren großen Jahren vor Edelleuten und Piraten geschützt hatte und die mit der Zeit unter einem verholzten Dickicht und langen Girlanden gelber Glockenblumen verschwunden war. Also stürzte ich mich ins Gewühl der Fahrgäste und schleifte den Koffer durchs Gestrüpp, in dem die Panzer lebender Krebse wie Knallkörper unter den Schuhsohlen knackten. Es war unmöglich, unter diesen Umständen nicht an den Petate zu denken, das Notgepäck, das meine Gefährten der ersten Reise in den Rio Magdalena geworfen hatten, oder an den sargähnlichen Koffer, den ich in meinen ersten Oberschuljahren mit Tränen der Wut durch das halbe Land geschleppt und am Ende, zur Feier meines Abiturs, in einen Abgrund der Anden gestoßen hatte. Diesen übermäßigen und unverdienten Lasten hatte stets etwas von einem fremden Schicksal angehaftet, und die langen Jahre meines Lebens haben nicht genügt, das zu widerlegen.
    Die Silhouetten einiger Kirchenkuppeln und Klöster waren gerade erst im Abenddunst zu erahnen, als uns ein Sturmwind von Fledermäusen entgegenbrauste, sie schwirrten knapp über unsere Köpfe hinweg, und nur ihrer Klugheit war zu verdanken, dass wir nicht von ihnen niedergemäht wurden. Ihre Flügel dröhnten wie Trommelwirbel und hinterließen tödlichen Gestank. Von Panik überwältigt, ließ ich den Koffer fallen, verschränkte die Arme über dem Kopf und

Weitere Kostenlose Bücher