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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Die Tatsachen schränkten erbarmungslos die Möglichkeiten ein, durch die auf der abgeschiedenen Insel des Präsidentenbüros mehrere Männer sich mit einem einzigen zu einer besonnenen Übereinkunft hätten verständigen können.
    Darío Echandía, der vielleicht die größte Autorität hatte, war der Wortkargste. Er machte zwei oder drei ironische Kommentare über den Präsidenten und zog sich wieder in seine Grübeleien zurück.
    Er schien der einzige in Frage kommende Kandidat für die Ablösung von Ospina Pérez im Präsidentenamt zu sein, tat in jener Nacht jedoch nichts, um dieses Amt zu verdienen oder zu vermeiden. Der Präsident, den man für einen gemäßigten Konservativen gehalten hatte, schien das immer weniger zu sein. Er war Enkel und Neffe von zwei Präsidenten in einem Jahrhundert, Familienvater, Ingenieur im Ruhestand, schon seit jeher Millionär und noch ein paar Dinge mehr, die er aber im Stillen ausübte, so dass es sogar unbegründet hieß, sowohl bei ihm zu Hause wie im Palast führe in Wirklichkeit seine streitbare Frau das Regiment. Mit beißendem Sarkasmus stellte er schließlich fest, er habe eigentlich kein Problem damit, den Vorschlag anzunehmen, aber es sei nun einmal so, dass er sich sehr wohl dabei fühle, von eben dem Sessel aus zu regieren, auf den der Wille des Volkes ihn gesetzt habe.
    Als er das sagte, fühlte er sich zweifellos durch Informationen gestärkt, die den Liberalen fehlten: Er wusste genau und umfassend über den jeweiligen Zustand der öffentlichen Ordnung im Land Bescheid. Und zwar schon die ganze Zeit über, da er immer wieder das Büro verlassen hatte, um sich gründlich zu informieren. Die Garnison von Bogotá war nicht einmal tausend Mann stark, und aus den anderen Bezirken gab es mehr oder weniger alarmierende Nachrichten, aber alles war unter Kontrolle und die Armee loyal. Im Nachbarbezirk Boyacá, bekannt für seinen historisch gewachsenen Liberalismus und seinen unversöhnlichen Konservatismus, war Gouverneur José Maria Villarreal, konservativ bis ins Mark, nicht nur früh gegen die lokalen Unruheherde vorgegangen, sondern er schickte nun auch Truppen nach Bogotá, die besser ausgerüstet waren, den Aufruhr zu unterdrücken. Also brauchte der Präsident die Liberalen nur taktisch hinzuhalten, indem er bedachtsam wenig sagte und langsam rauchte. Er schaute dabei nie auf die Uhr, musste sich aber genau ausgerechnet haben, wann die Stadt wieder ausreichend mit Verstärkungstruppen versorgt war, die nicht nur ausgeruht, sondern auch gut trainiert in der Ausübung staatlicher Repression waren.
    Nach einem langen Hin und Her über mögliche Lösungen schlug Carlos Lleras Restrepo das vor, was das Parteipräsidium der Liberalen in der Clínica Central als letztes Mittel vereinbart hatte:
    Der Präsident solle um der politischen Eintracht und des sozialen Friedens willen die Macht an Darío Echandía übergeben. Dieser Plan hätte zweifellos die völlige Billigung von Eduardo Santos und Alfonso López Pumarejo gefunden, zwei Expräsidenten von großer politischer Glaubwürdigkeit, die zu der Zeit gerade außer Landes waren.
    Die Antwort des Präsidenten, die er mit der gleichen Gelassenheit gab, mit der er rauchte, war nicht die, die man hätte erwarten können. Er nutzte die Gelegenheit, um seine wahre Haltung zu zeigen, die bis dahin wenigen bekannt war. Er sagte, dass es für ihn und seine Familie das Bequemste wäre, sich von der Regierung zurückzuziehen und im Ausland ohne politische Sorgen von seinem Privatvermögen zu leben, jedoch beunruhige ihn der Gedanke, was es für das Land bedeuten würde, wenn ein gewählter Präsident aus seinem Amt flüchtete. Ein Bürgerkrieg wäre unvermeidlich. Und als Lleras Restrepo noch einmal auf Ospinas Rücktritt beharrte, erlaubte dieser sich, daran zu erinnern, dass er dazu verpflichtet sei, die Verfassung und die Gesetze zu verteidigen, eine Verpflichtung, die er nicht nur dem Vaterland, sondern auch seinem Gewissen und Gott gegenüber eingegangen sei. Und dann, so heißt es, sagte er den historischen Satz, den er wohl nie gesagt hat, der aber auf ewig als der seine gelten wird: »Für die kolumbianische Demokratie ist ein toter Präsident mehr wert als ein geflüchteter Präsident.«
    Keiner der Zeugen konnte sich daran erinnern, den Satz aus seinem Mund oder von irgendjemand anderem gehört zu haben. Im Laufe der Zeit wurde er unterschiedlichen Stimmen zugeschrieben, es wurden sogar sein politischer Wert und seine

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