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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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erste Raum diente als Besuchszimmer und Privatbüro des Großvaters. Dort stand ein Schreibtisch mit Rollschuhen, ein gefederter Drehsessel, ein elektrischer Ventilator und ein leerer Bücherschrank, in dem nur ein einziges riesiges und zerfleddertes Buch stand: das Lexikon. Anschließend kam die Schmiedewerkstatt, in der Großvater seine berühmten goldenen Fischchen mit beweglichen Körpern und winzigen Smaragdaugen herstellte. Das bereitete ihm mehr Freude, als es Geld einbrachte. Hier wurden einige bedeutende Persönlichkeiten empfangen, vor allem Politiker, ausgemusterte Staatsbeamte, Kriegsveteranen. Darunter, bei unterschiedlichen Gelegenheiten, zwei Besucher von historischem Rang: die Generäle Rafael Uribe Uribe und Benjamin Herrera. Beide aßen im Familienkreis zu Mittag. Von Uribe Uribe blieb meiner Großmutter jedoch für den Rest ihres Lebens nur seine Zurückhaltung bei Tisch in Erinnerung: »Er aß wie ein Vögelchen.«
    Der Doppelraum mit dem Büro und der Goldschmiede war den Frauen kraft unserer karibischen Kultur verboten, so wie es die Kneipen im Ort kraft Gesetzes waren. Im Laufe der Zeit wurde der Raum jedoch zum Krankenpflegezimmer, in dem Tante Petra starb und Wenefrida Márquez, Papalelos Schwester, die letzten Monate einer langen Krankheit ertrug. An den Bereich des Großvaters schloss das hermetische Paradies der vielen Frauen an, die in der Zeit meiner Kindheit ständig oder nur gelegentlich im Haus wohnten. Ich war das einzige männliche Wesen, das in den Genuss der Privilegien beider Welten kam.
    Das Esszimmer war nicht viel mehr als ein verbreiteter Teil des Korridors mit dem Geländer, wo die Frauen des Hauses zu nähen pflegten. Dort stand ein Tisch für sechzehn Personen, für die erwarteten oder unverhofften Gäste, die täglich mit dem Mittagszug kamen. Meine Mutter betrachtete von dort aus die zerbrochenen Begonientöpfe, die verfaulten Strünke und den von den Ameisen zerfressenen Stamm des Jasmins und holte tief Luft.
    »Manchmal konnten wir im heißen Jasmingeruch kaum atmen«, sagte sie zum blendenden Himmel schauend und seufzte aus tiefster Seele auf. »Am meisten hat mir seitdem aber immer der Donner um drei Uhr mittags gefehlt.«
    Das bewegte mich, denn auch ich erinnerte mich an dieses einmalige Krachen, das uns wie ein Geprassel von Steinen aus der Siesta weckte, aber ich war mir nie dessen bewusst gewesen, dass es nur um drei Uhr stattfand.
    Am Ende des Korridors lag ein Empfangszimmer für besondere Gelegenheiten, denn die täglichen Besucher wurden mit kaltem Bier im Büro bewirtet, wenn es Männer waren, oder im Begoniengang, wenn es sich um Frauen handelte. Dort begann auch die mythische Welt der Schlafzimmer. Erst das der Großeltern, mit einer großen Tür zum Garten, darüber ein Holzfries mit geschnitzten Blumen und dem Baujahr: 1925. Da bereitete mir meine Mutter unverhofft eine Überraschung, als sie mit triumphaler Emphase ausrief:
    »Und hier wurdest du geboren!«
    Ich hatte das nicht gewusst oder wieder vergessen, im anschließenden Zimmer fanden wir aber die Wiege, in der ich bis zum vierten Lebensjahr schlief und die meine Großmutter für immer aufgehoben hatte. Ich hatte die Wiege vergessen, aber sobald ich sie sah, erinnerte ich mich an mich selbst, wie ich in einem nagelneuen Strampelanzug mit blauen Blümchen weinte und schrie, damit jemand käme und die voll gekackten Windeln entfernte. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, hing an den Gitterstäben der Wiege, die nun klein und zerbrechlich wie der Korb von Moses wirkte. In der Verwandtschaft und im Freundeskreis hat dieser Vorfall oft zu Diskussionen und Spott Anlass gegeben, da mein Kummer an jenem Tag zu rational motiviert für mein zartes Alter schien.
    Und erst recht, weil ich darauf bestand, dass der Grund für meine Unruhe nicht der Ekel vor meiner eigenen Notdurft war, sondern die Angst, den neuen Strampelanzug zu beschmutzen. Das heißt, es ging nicht um ein hygienisches Vorurteil, sondern um ein ästhetisches Ärgernis, und so wie es mir der Form nach im Gedächtnis geblieben ist, glaube ich, dass dies mein erstes Erlebnis als Schriftsteller war.
    In diesem Schlafzimmer gab es auch einen Altar mit lebensgroßen Heiligen, die realistischer und düsterer waren als die in der Kirche. Hier schlief immer Tante Francisca Simodosea Mejia, eine Kusine meines Großvaters, die wir Tante Mama nannten und die nach dem Tod ihrer Eltern als Herrin im Haus lebte. Ich schlief in der Hängematte neben

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