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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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sich beschäftigt, doch dann, bevor er noch ausgetrunken hatte, gewann er seinen fiebrigen Idealismus zurück, der mir die Sprache verschlug. »Das einzig Tröstliche bei der ganzen Geschichte ist«, sagte er mit einem bewegten Seufzer, »dass du zum Glück endlich dein Studium abschließen kannst.« Ich habe ihm nie gesagt, wie sehr mich diese freudige Phantasterei über einen so trivialen Tatbestand erschüttert hat. Ich spürte einen eisigen Schauer in den Eingeweiden, ausgelöst von dem perversen Gedanken, der Exodus der Familie wäre eine bloße List des Vaters, mit der er mich dazu zwingen wollte, Rechtsanwalt zu werden. Ich sah ihm direkt in die Augen, und sie waren zwei stille Seen. Ich begriff, er war so wehrlos und beklommen, dass er mich zu nichts zwingen, mir auch nichts abschlagen würde; zugleich hatte er aber doch noch genügend Vertrauen in die göttliche Vorsehung, um zu glauben, dass er mich so weit bringen würde, aus Ermüdung zu kapitulieren. Mehr noch: Mit eben der gezielten Zuversicht eröffnete er mir, dass er mir eine Arbeit in Cartagena verschafft und alles geregelt habe, damit ich am nächsten Montag dort anfangen könne. Eine großartige Stelle, erklärte er mir, ich müsse nur alle zwei Wochen dort vorsprechen, um das Gehalt zu kassieren.
    Das war sehr viel mehr, als ich verdauen konnte. Mit zusammengebissenen Zähnen machte ich ein paar Einwände geltend, die ihn auf die endgültige Absage vorbereiten sollten. Ich erzählte ihm von dem langen Gespräch mit meiner Mutter während der Reise nach Aracataca, wozu ich nie irgendeinen Kommentar von ihm gehört hatte, und begriff, dass seine Gleichgültigkeit dem Thema gegenüber die beste Antwort war. Traurig war vor allem, dass ich mit gezinkten Karten spielte, da ich wusste, dass man mich an der Universität nicht mehr annehmen würde, nachdem ich zwei Fächer des zweiten Studienjahrs nicht bestanden und auch nie nachgeholt hatte und im dritten Studienjahr in drei weiteren Fächern durchgefallen war, die ich nicht mehr wiederholen durfte. Ich hatte es der Familie verschwiegen, um ihr unnötigen Kummer zu ersparen, und ich wollte mir Papas Reaktion nicht einmal vorstellen, wenn ich es ihm an diesem Nachmittag erzählen würde. Zu Beginn des Gesprächs hatte ich mir vorgenommen, mir nicht das Herz erweichen zu lassen, nur weil es mir wehtat, dass ein so gütiger Mann vor seinen Kindern als Geschlagener dastand. Dann aber schien mir das zu vertrauensselig. Am Ende fand ich die einfache Formel, er möge mir eine Nacht Galgenfrist zum Nachdenken gewähren.
    »Einverstanden«, sagte er, »vorausgesetzt, du verlierst dabei nicht aus den Augen, dass das Schicksal der Familie in deinen Händen liegt.«
    Der Hinweis war überflüssig. Ich war mir meines Versagens so bewusst, dass ich, als ich ihn abends um sieben Uhr am letzten Bus verabschiedete, es kaum übers Herz brachte, mich nicht neben ihn zu setzen und mitzufahren. Mir war klar, der Kreis hatte sich geschlossen, und die Familie war wieder so arm, dass ein Überleben nur möglich schien, wenn alle halfen.
    Es war keine gute Nacht für eine Entscheidung. Die Polizei hatte mehrere Familien, die vor der violencia auf dem Lande geflohen waren und im Parque de San Nicolás kampierten, gewaltsam vertrieben. Der Frieden im Café Roma war dennoch unerschütterlich. Die spanischen Exilanten pflegten mich immer nach Don Ramon Vinyes zu fragen, und immer sagte ich scherzend, dass in seinen Briefen keine Neuigkeiten aus Spanien, sondern nur sehnsüchtige Fragen nach Barran-quilla stünden. Seitdem er gestorben war, erwähnten sie ihn nicht mehr, hielten aber seinen Stuhl an ihrem Tisch frei. Ein Gast beglückwünschte mich zu der »Jirafa« des Vortags, die ihn irgendwie an den ungebändigten Romantizismus von Mariano José de Larra erinnerte, allerdings erfuhr ich nicht warum. Professor Pérez Domenech erlöste mich mit einem seiner passenden Sätze aus der Verlegenheit: »Ich hoffe, Sie eifern ihm nicht auch darin nach, sich zu erschießen.« Das hätte er, glaube ich, nicht gesagt, wenn er gewusst hätte, wie nah daran ich in jener Nacht war.
    Eine halbe Stunde später nahm ich Germán Vargas am Arm und führte ihn in den hinteren Teil des Café Japy. Sobald man uns bedient hatte, sagte ich ihm, ich müsse ihn dringend um Rat bitten. Die Tasse, aus der er gerade trinken wollte, blieb auf halbem Weg zum Mund stehen - ganz wie bei Don Ramón -, und er fragte mich alarmiert:
    »Wo wollen Sie hin?«
    Ich

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