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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Holzschuhen und Akkordeon in den Bus, die von Jahrmarkt zu Jahrmarkt fahren, um dort zu singen. Escalona bat den Mann, sich neben ihn zu setzen, und sang ihm die einzigen zwei fertigen Strophen seines neuen Lieds ins Ohr.
    Auf halber Strecke stieg der fahrende Sänger glücklich aus dem Bus, und Escalona fuhr weiter bis nach Valledupar, wo er sich ins Bett legen musste, um das Vierzig-Grad-Fieber einer gewöhnlichen Erkältung auszuschwitzen. Drei Tage später, am Karnevalssonntag, fegte das unvollendete Lied, das er leise seinem Zufallsfreund vorgesungen hatte, alle alte und neue Musik von Valledupar bis zum Cabo de la Vela beiseite. Nur Escalona wusste, wer das Lied, während er selbst sein Karnevalsfieber ausschwitzte, verbreitet und ihm den Titel »La vieja Sara« gegeben hatte.
    Die Geschichte ist wahr, aber nicht überraschend in einer Gegend und bei einem Berufsstand, wo das Erstaunliche das Natürliche ist. Das Akkordeon ist in Kolumbien nicht heimisch oder allgemein verbreitet und nur in der Provinz Valledupar populär, wahrscheinlich ein Import aus Aruba und Curacao. Während des Zweiten Weltkriegs war die Einfuhr aus Deutschland unterbrochen, und die Instrumente, die es bereits in der Provinz gab, überlebten nur durch die Pflege, die ihnen ihre hiesigen Besitzer angedeihen ließen. Einer von diesen war Leandro Díaz, ein Schreiner, der nicht nur ein genialer Komponist und ein meisterhafter Akkordeonspieler war, sondern auch der Einzige, der während des Kriegs die Instrumente reparieren konnte, und das obwohl er von Geburt an blind war. Das Leben der wahren fahrenden Sänger besteht darin, von Ort zu Ort ziehend die komischen und simplen Ereignisse aus der täglichen Geschichte auf kirchlichen oder weltlichen Festen zu besingen, vor allem aber im Trubel des Karnevals. Der Fall Rafael Escalona liegt anders. Als Sohn von Oberst Clemente Escalona, Neffe des berühmten Bischofs Celedon und Abiturient des Liceo von Santa Marta, das dessen Namen trägt, begann er schon im Kindesalter zu komponieren, zum Schrecken seiner Familie, die Singen und Akkordeonspielen als Beschäftigung für Handwerker ansah. Er war nicht nur der einzige fahrende Sänger mit Abitur, sondern auch einer der wenigen, die damals überhaupt lesen und schreiben konnten, außerdem ein stolzer und liebeshungriger Mann, der seinesgleichen sucht. Aber er war und ist nicht der Letzte seiner Zunft: Heute gibt es sie zu Hunderten, und sie werden immer jünger. Das hat Bill Clinton begriffen, als er einer Volksschulgruppe zuhörte, die aus Der Provinz angereist war, um im Weißen Haus für ihn zu singen.
    In jenen Tagen eines gütigen Schicksals traf ich zufällig Mercedes Barcha, die Tochter des Apothekers von Sucre, der ich bereits die Ehe angetragen hatte, als sie dreizehn war. Anders als bei früheren Gelegenheiten nahm sie nun endlich meine Einladung an, am nächsten Sonntag ins Hotel del Prado tanzen zu gehen. Erst da erfuhr ich, dass sie mit ihrer Familie wegen der immer bedrohlicheren politischen Lage nach Barranquilla gezogen war. Ihr Vater Demetrio war ein gestandener Liberaler, der sich weder von den ersten Drohungen im Zeichen zunehmender politischer Verfolgung hatte einschüchtern lassen, noch von der möglichen gesellschaftlichen Schande durch die Schmähschriften. Auf den Druck der Familie hin versteigerte er jedoch dann die wenigen Dinge, die ihm noch in Sucre geblieben waren, und machte seine Apotheke in Barranquilla neben dem Hotel del Prado auf. Obwohl er im Alter meines Vaters war, verband ihn mit mir eine jugendliche Freundschaft, die wir in der Kneipe gegenüber aufzuwärmen pflegten, und mehr als einmal landeten wir beide im Tercer Hombre zum gemeinsamen Besäufnis mit der ganzen Gruppe. Mercedes ging damals in Medellin zur Schule und kam nur in den Weihnachtsferien heim. Sie war immer lustig und freundlich zu mir, wich aber mit dem Talent einer Zauberkünstlerin Fragen und Antworten aus und ließ sich nie festlegen. Ich hatte das zu akzeptieren, immerhin war es eine barmherzigere Strategie als Gleichgültigkeit oder Ablehnung, und so gab ich mich damit zufrieden, dass sie mich mit ihrem Vater und dessen Freunden in der Kneipe gegenüber sah. Demetrio entdeckte mein Interesse für Mercedes in jenen Ferien des Verlangens nur deshalb nicht, weil es das bestgehütete Geheimnis der ersten zwanzig Jahrhunderte der Christenheit war. Bei mehreren Gelegenheiten brüstete er sich im Ter-cer Hombre mit dem Spruch, den sie bei unserem

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