Leben, um davon zu erzählen
seine Coca-Cola, was er nicht zu bemerken schien, er trank sie dann jedoch mit dem Strohhalm, ohne seine Erklärungen zu unterbrechen. Die meisten Gäste begrüßten ihn laut von der Tür aus: »Wie geht's, Don Ramón?« Und er antwortete ohne aufzuschauen mit einem Flattern seiner Künstlerhand.
Während er sprach, richtete Don Ramón verstohlene Blicke auf die Ledermappe, die ich beim Zuhören fest in beiden Händen hielt. Als er die erste Coca-Cola ausgetrunken hatte, verdrehte er den Strohhalm wie einen Korkenzieher und bestellte die zweite. Ich orderte eine für mich, wohl wissend, dass an diesem Tisch jeder für sich zahlte. Schließlich fragte er mich, was denn das für eine geheimnisvolle Mappe sei, an die ich mich wie ein Schiffbrüchiger klammere.
Ich sagte ihm die Wahrheit: Das sei das erste Kapitel des Romans, den ich nach meiner Rückkehr aus Cataca begonnen hätte, eine Rohfassung. Mit einem Wagemut, den ich nie wieder an einem Kreuzweg von Leben und Tod aufbringen sollte, legte ich die geöffnete Mappe wie eine unschuldige Herausforderung vor ihn auf den Tisch. Er richtete seine klaren, gefährlich blauen Augen auf mich und fragte etwas verwundert:
»Sie erlauben?«
Der Text war mit der Maschine auf langen Streifen des Druckpapiers geschrieben, mit unzähligen Korrekturen versehen und wie eine Ziehharmonika gefaltet. Er setzte sich ohne Hast die Lesebrille auf, entfaltete die Papierstreifen mit professionellem Geschick und legte sie auf dem Tisch zurecht. Er las ohne jede Bewegung, ohne dass sich die Hautfarbe oder der Atem veränderte, nur auf seinem Kopf wiegte sich sacht im Rhythmus seiner Gedanken eine Strähne wie bei einem Kakadu. Don Ramón beendete zwei ganze Streifen, faltete sie wieder schweigend mit mittelalterlicher Kunstfertigkeit zusammen und schloss die Mappe. Dann verwahrte er die Brille im Etui und steckte dieses in die Brusttasche.
»Man merkt, dass es noch Rohmaterial ist, das ist ja auch logisch«, sagte er mit großer Einfachheit. »Aber die Richtung stimmt.«
Er machte ein paar Bemerkungen über die Behandlung der Zeit, mein entscheidendes Problem und sicher das schwierigste überhaupt, und fügte hinzu:
»Sie müssen sich bewusst machen, dass das Drama bereits stattgefunden hat und die Figuren nur dazu da sind, es zu beschwören, also müssen sie mit zwei Zeiten kämpfen.«
Nach einer Reihe von technischen Hinweisen, die ich auf Grund mangelnder Erfahrung nicht richtig würdigen konnte, empfahl er mir, die Stadt im Roman nicht Barranquilla zu nennen, wofür ich mich in meiner Rohfassung entschieden hatte, weil der Name so stark an die Realität gebunden sei, dass er dem Leser wenig Raum zum Träumen lasse. Und schloss in seinem spöttischen Ton:
»Oder stellen Sie sich dumm und warten Sie darauf, dass es vom Himmel fällt. Schließlich ist auch das Athen von Sophokles nie das der Antigone gewesen.«
Eisern befolgt habe ich aber stets die Empfehlung, mit der er sich an jenem Abend von mir verabschiedete:
»Ich bin Ihnen dankbar für Ihr Vertrauen und will mich mit einem Rat revanchieren: Zeigen Sie nie jemandem die Rohfassung von etwas, an dem sie gerade schreiben.«
Dieses einzige Gespräch musste für alle herhalten, denn Don Ramón brach, wie seit über einem Jahr geplant, am 15. April 1950 nach Barcelona auf. Er wirkte fremd in dem schwarzen Tuchanzug und dem Hut eines Notablen, aber es war, als schicke man ein Schulkind auf die Reise. Mit seinen achtundsechzig Jahren war er bei guter Gesundheit und geistig so rege wie eh und je, doch wir, die wir ihn zum Flughafen begleiteten, verabschiedeten ihn wie einen, der in sein Heimatland zurückkehrt, um dem eigenen Begräbnis beizuwohnen.
Erst am nächsten Tag, als wir zu unserem Tisch im Japy kamen, wurde uns die Leere bewusst, die er an seinem Platz zurückgelassen hatte, und niemand konnte sich dazu entschließen, sich auf diesen Stuhl zu setzen, bis wir uns darauf einigten, Germán solle dort sitzen. Wir brauchten ein paar Tage, um uns an den neuen Rhythmus des täglichen Gesprächs zu gewöhnen, bis Don Ramons erster Brief kam, der, mit violetter Tinte in seiner winzigen Schrift geschrieben, wie gesprochen klang. So begann eine rege, intensive Korrespondenz mit der ganzen Gruppe, vertreten durch Germán; die Briefe erzählten wenig von Don Ramons Leben, dafür sehr viel von einem Spanien, das er weiter als Feindesland betrachten wollte, solange Franco lebte und die Herrschaft Spaniens über Katalonien
Weitere Kostenlose Bücher