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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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verblüfft, dass sich die Menschen in dem unfassbar großen Unglück, das sie heimgesucht hatte, weiter über Kleinigkeiten des täglichen Lebens aufregten und sich wegen Nichtigkeiten in die Haare gerieten.
    Eine ältere Frau flüsterte ihr zu: »Gucken Sie mal, Frau Doktor, die vornehme Dame da, die sitzt am Spalt, als würde nur ihr Kind Sauerstoff brauchen. Die Dame fährt in den Kurort.«
    In der Nacht hielt der Zug zweimal an; alle lauschten auf die knirschenden Schritte der Wachsoldaten und schnappten undeutliche russische und deutsche Brocken auf.
    Schrecklich war die Sprache Goethes, wenn man sie in der Nacht auf kleinen russischen Bahnhöfen hörte, doch noch unheilvoller klang die eigene russische Muttersprache, gesprochen von Leuten, die in der deutschen Wachmannschaft dienten.
    Wie all ihre anderen Gefährten litt Sofja Ossipowna gegen Morgen unter Hunger und träumte von einem Schluck Wasser.
    Es war ein schüchterner, bescheidener Traum – sie stellte sich eine zerbeulte Konservenbüchse vor, auf deren Grund etwas warme Brühe schwamm. Sie kratzte sich mit raschen, kurzen Bewegungen wie ein Hund, der Flöhe hat.
    Jetzt, so schien es Sofja Ossipowna, hatte sie den Unterschied zwischen Leben und Existieren begriffen. Das Leben hatte aufgehört, war abgebrochen, aber die Existenz dauerte an, ging weiter. Und war diese Existenz auch erbärmlich, so war sie doch bei dem Gedanken an einen gewaltsamen Tod vor Angst wie gelähmt.
    Es regnete, ein paar Tropfen spritzten durch das vergitterte Fensterchen herein. Sofja Ossipowna riss von einem Zipfel ihrer Bluse einen dünnen Streifen ab, hielt ihn an die Stelle der Waggonwand, wo es einen kleinen Spalt gab, steckte das Stoffstückchen hindurch und wartete, bis der Fetzen von der Regenfeuchtigkeit durchtränkt war. Dann zog sie ihn durch den Spalt zurück und begann, an dem kühlen, feuchten Lappen zu kauen. Die Leute an den Außenwänden und in den Waggonecken fingen ebenfalls an, Fetzen abzureißen, und Sofja Ossipowna empfand Stolz – sie hatte eine Methode erfunden, den Regen einzufangen.
    Der Junge, den Sofja Ossipowna angerempelt hatte, saß nicht weit von ihr und beobachtete, wie die Leute kleine Läppchen durch den Spalt zwischen Tür und Boden ins Freie hielten. Im Dämmerlicht erblickte sie sein mageres, spitznasiges Gesicht. Er war wohl sechs Jahre alt. Sofja Ossipowna überlegte, dass während der ganzen Zeit, die sie schon in diesem Waggon verbrachte, niemand mit diesem Jungen geredet hatte, er saß immer nur regungslos da und sprach mit keinem einzigen Menschen auch nur ein Wort. Sie reichte ihm den feuchten Lappen hin und sagte: »Nimm, Kleiner.«
    Er schwieg.
    »So nimm schon«, sagte sie; er streckte zögernd die Hand aus.
    »Wie heißt du?«, fragte sie.
    Leise antwortete er: »David.«
    Ihre Nachbarin, Mussja Borissowna, erzählte, dass David aus Moskau zur Großmutter zu Besuch gekommen war und der Krieg ihn von der Mutter abgeschnitten hatte. Die Großmutter war im Ghetto umgekommen, und die Verwandte von David, Rebekka Buchman, die mit ihrem kranken Mann im Waggon mitfuhr, gestattete dem Jungen nicht einmal, neben ihr zu sitzen.
    Als es Abend wurde, hatte Sofja Ossipowna viele Gespräche, Erzählungen und Streitereien mit angehört und hatte selbst geredet und gestritten. Sie wandte sich an ihre Gesprächspartner mit einem »Brider Jidden, hört mich mal an …«
    Viele erwarteten hoffnungsvoll das Ende der Fahrt, glaubten, dass man sie in Lager brachte, wo jeder in seinem Beruf arbeiten würde und die Kranken in Sonderbaracken kämen. Alle sprachen beinahe ununterbrochen darüber. Doch während dieser ganzen Zeit verließ sie niemals das heimliche Grauen, das tief in ihren Seelen saß.
    Sofja Ossipowna erfuhr aus den Geschichten, die man sich erzählte, dass der Mensch nicht nur von Menschlichkeit beseelt ist. Man berichtete ihr von einer Frau, die ihre gelähmte Schwester in einen Trog gesetzt und im Winter ins Freie geschleppt hatte und sie so hatte erfrieren lassen. Man erzählte ihr, dass es Mütter gegeben habe, die ihre Kinder umgebracht hätten, und dass im Waggon eine solche Frau sitze, und man erzählte ihr von Menschen, die wie Ratten heimlich monatelang in Kanalisationsröhren gelebt und sich von Unrat ernährt hätten, zu allen Entbehrungen bereit, nur um zu überleben.
    Das Leben der Juden unter dem Faschismus war grauenhaft, doch die Juden waren weder Heilige noch Bösewichte – sie waren Menschen.
    Das Mitleid, das Sofja

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