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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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stärker wurde.
    »Wer ist denn das nun wirklich, dieses Ich – ich, ich?«, dachte Sofja Ossipowna. »Der rotznäsige Knirps, der vor Vater und Großmutter Angst hatte, oder die herrische, etwas füllige Frau mit den Rangabzeichen auf den Kragenspiegeln oder jetzt diese verlauste Elendsgestalt?«
    Der Wunsch nach Glück war vergangen; an seine Stelle jedoch waren viele andere kleine Träume getreten: die Läuse totschlagen … sich zum Spalt vorarbeiten und ein bisschen frische Luft schnappen … zu urinieren … wenigstens einen Fuß zu waschen … und der im ganzen Körper brennende Wunsch – zu trinken.
    Man hatte sie in den Waggon gestoßen, und sie hatte, als sie sich im Halbdunkel umblickte, das ihr zuerst wie völlige Finsternis erschienen war, leises Lachen gehört.
    »Lachen hier etwa Wahnsinnige?«, hatte sie gefragt.
    »Nein«, hatte eine männliche Stimme geantwortet. »Hier erzählt man sich einen Witz.«
    Jemand hatte melancholisch gemeint: »Noch eine Jüdin in unserem Unglückszug.«
    Sofja Ossipowna war an der Tür stehen geblieben und hatte versucht, sich mit zusammengekniffenen Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen; währenddessen beantwortete sie Fragen.
    Zugleich mit dem Weinen und Stöhnen, mit dem üblen Gestank, atmete sie plötzlich eine Atmosphäre, die getränkt war mit längst vergessenen Wörtern, Intonationen, die sie seit ihrer Kindheit nicht mehr vernommen hatte.
    Sofja Ossipowna wollte ins Innere des Waggons vordringen, doch sie schaffte es nicht. Sie ertastete in der Dunkelheit ein mageres Bein in kurzen Hosen und sagte: »Entschuldige, Junge, habe ich dir wehgetan?«
    Doch der Junge gab ihr keine Antwort. Sofja Ossipowna sagte in die Dunkelheit hinein: »Mamascha, vielleicht könnten Sie Ihren stummen jungen Mann da etwas zur Seite rücken? Ich kann doch nicht die ganze Zeit stehen bleiben.«
    Aus einer Ecke rief eine hysterische männliche Schauspielerstimme: »Sie hätten vorher ein Telegramm aufgeben sollen, dann hätte man Ihnen ein Zimmer mit Bad hergerichtet.«
    »Idiot«, konterte Sofja Ossipowna.
    Eine Frau, deren Gesicht sie im Halbdunkel bereits unterscheiden konnte, meinte: »Setzen Sie sich neben mich, bei mir ist jede Menge Platz.«
    Sofja Ossipowna merkte, dass ihre Finger rasch und kaum wahrnehmbar zitterten.
    Dies war die Welt, die ihr aus der Kindheit vertraut war, die Welt des jüdischen Schtetl. Aber sie spürte, wie sich in dieser Welt alles verändert hatte.
    Unter den Waggoninsassen waren Handwerker, ein Radiomonteur, Studentinnen der Lehrerbildungsanstalt, Lehrer der Gewerkschaftsschule, ein Ingenieur aus einer Konservenfabrik, ein Zootechniker, eine junge Tierärztin. Früher hatte man im Schtetl solche Berufe nicht gekannt. Aber hatte sich denn Sofja Ossipowna etwa nicht verändert, die Sofja, die einmal ihren Vater und ihre Großmutter gefürchtet hatte? Vielleicht war diese neue Welt ebenso unveränderlich wie die frühere. Und überhaupt, war nicht alles egal? Ob neu oder alt, das jüdische Schtetl rollte nun unaufhaltsam dem Abgrund zu.
    Sie hörte, wie eine junge Frauenstimme sagte: »Die Deutschen von heute, das sind Wilde, die haben nicht einmal von Heinrich Heine etwas gehört.«
    Aus einer anderen Ecke versetzte eine Männerstimme spöttisch: »Aber letzten Endes sind wir es, die von diesen Wilden wie Vieh befördert werden. Was hilft uns da schon dieser Heine?«
    Sie fragten Sofja Ossipowna über die Lage an den Fronten aus; da sie aber nichts Gutes zu berichten hatte, erklärten sie ihr, dass ihre Auskünfte nicht stimmten, und sie begriff, dass es in dem Kälberwaggon eine eigene Strategie gab, die sich auf einen leidenschaftlichen Überlebenswillen gründete.
    »Wissen Sie denn nicht, dass Hitler das Ultimatum bekommen hat, alle Juden unverzüglich freizulassen?«
    Ja, natürlich, so war es. Das absurde Opium des Optimismus kommt den Menschen zu Hilfe, wenn das schneidende Gefühl des Entsetzens an die Stelle resignierter Verzweiflung tritt.
    Bald interessierte sich niemand mehr für Sofja Ossipowna; sie wurde zur Weggenossin, die nicht wusste, wohin man sie verfrachtete, genauso wie alle Übrigen. Nach ihrem Vor- und Vatersnamen fragte niemand, ihren Familiennamen behielt auch niemand.
    Sofja Ossipowna staunte. Wenige Tage hatten genügt, um den umgekehrten Weg vom Menschen zum schmutzigen, unglücklichen, des Namens und der Freiheit beraubten Vieh zurückzulegen, während doch der Weg zum Menschen Millionen Jahre gedauert hatte.
    Sie war

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