Leben und Schicksal
aus dem Märchenwald, wo im Dämmerlicht die Tannen stehen, würde der Tod zu ihm und zu ihr kommen, sondern aus dieser Luft, aus dem Leben, aus den vertrauten Wänden, und sie würden sich nicht vor ihm verstecken können.
Er gewahrte den Tod mit solcher Klarheit und Tiefe, wie sie nur kleine Kinder und große Philosophen erreichen können.
Von den Stühlen mit den durchgesessenen Sitzen, auf die Sperrholzbrettchen gelegt waren, und vom behäbigen Kleiderschrank ging ein ruhiger, guter Duft aus, der gleiche wie von Großmutters Haar und von ihrem Kleid. Warme, trügerisch ruhige Nacht war um ihn herum.
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In diesem Sommer löste sich das Leben von den bemalten Flächen der Bauklötzchen und von den Abbildungen in der Bilderfibel. David entdeckte, wie blau der schwarze Flügel des Erpels schillerte und wie viel lustiger Spott aus seinem Geschnatter sprach. Weiße Wachskirschen leuchteten zwischen den Blättern hervor; er kletterte den rauen Baumstamm hoch, reckte sich nach den Früchten und pflückte sie ab. Er ging zu dem Kälbchen, das auf einem Stück Brachland angepflockt war, und hielt ihm ein Zuckerstückchen hin – starr vor Glück blickte er in die sanften Augen des riesigen Säuglings.
Der rothaarige Pyntschik kam auf David zu und schlug ihm mit schnarrender Aussprache vor: »He du, woll’n wirrrraufen!« 28
Die Juden und Ukrainer in Großmutters Hof waren einander ähnlich. Die alte Partynskaja kam zur Großmutter und sagte gedehnt: »Haben Sie schon gehört, Rosa Nussinowna? Sonja fährt nach Kiew, hat sich wieder mit ihrem Mann versöhnt.«
Die Großmutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen, lachte und antwortete: »Na, da habt ihr ja eine schöne Komödie erlebt.«
Diese Welt erschien David liebenswerter und schöner als die in der Kirowstraße, wo eine stark geschminkte alte Tante mit Kräusellöckchen namens Drako-Drakon ihren Pudel in dem asphaltierten Brunnen herumlaufen ließ, wo neben dem Haupteingang morgens eine SIS-101-Limousine stand, wo die Nachbarin mit dem Kneifer auf der Nase und der Zigarette zwischen den geschminkten Lippen wutschnaubend am Gemeinschaftsgasherd zischte: »Alte Trotzkistin, hast mir wieder meinen Kaffee von der Flamme runtergenommen.«
Mama hatte ihn nachts vom Bahnhof zur Großmutter gebracht. Sie waren durch die vom Mond erhellte Pflasterstraße gegangen, an der weißen katholischen Kirche vorbei, wo in einer Nische ein ausgemergelter Jesus Christus hing, so groß wie ein zwölfjähriger Junge, mit der Dornenkrone auf dem geneigten Haupt, und an der Lehrerbildungsanstalt vorbei, wo Mama früher einmal studiert hatte.
Ein paar Tage später, am Freitagabend, hatte David gesehen, wie die alten Männer im golden schimmernden Staub, den barfüßige Fußballspieler auf dem Brachfeld aufwirbelten, in die Synagoge gingen. Ein unwiderstehlicher Zauber lag in diesem Bild von ukrainischen weißen Katen, quietschenden Pumpenschwengeln, verblichenen Ornamenten auf den schwarzweißen Gebetsmänteln, die so ehrwürdig waren durch ihr biblisches Alter. Alles bestand nebeneinander: der»Kobsar« 29 neben Puschkin und Tolstoi, die Lehrbücher der Physik neben »Kinderkrankheit des Linksradikalismus im Kommunismus«, die nach dem Bürgerkrieg zugezogenen Schuster- und Schneidersöhne neben dem Instrukteur des Bezirkskomitees und den Intriganten und Volkstribunen des Bezirksrats der Gewerkschaften, die Lastwagenfahrer und Polizeiinspektoren neben den Lektoren für Marxismuskunde.
Bei seinem Besuch bei der Großmutter erfuhr David, dass seine Mutter unglücklich war. Als Erste erzählte ihm die dicke Tante Rahel, die so rote Backen hatte, als schämte sie sich dauernd, etwas darüber: »So eine wundervolle Frau wie deine Mutter zu verlassen! Der wird mal kein gutes Ende nehmen!«
Und einen Tag später wusste David schon, dass sein Vater zu einer russischen Frau gezogen war, die acht Jahre älter war als er, dass er in der Philharmonie zweieinhalbtausend im Monat verdiente, dass Mama auf Alimente verzichtet hatte und nur von dem lebte, was sie selbst verdiente, nämlich dreihundertzehn Rubel im Monat.
Einmal hatte David der Großmutter den Kokon gezeigt, den er in einer Streichholzschachtel aufbewahrte.
Doch die Großmutter hatte gesagt: »Pfui, was willst du mit dem Dreck? Schmeiß ihn sofort weg!«
Zweimal war David mit den Buben zum Güterbahnhof gegangen und hatte zugesehen, wie Bullen, Hammel und Schweine in die Waggons verladen wurden. Er hatte gehört, wie ein
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