Leben und Schicksal
Waggon hin und wieder zu singen. Manchmal sang sie auch nachts, aber die Leute ärgerten sich nicht über sie.
Sie war immer schüchtern gewesen, sprach mit kaum hörbarer Stimme, hielt die Augen gesenkt, ging nur zu den nächsten Verwandten zu Besuch und staunte über den Mut der Mädchen, die auf Abendveranstaltungen tanzten.
In der Stunde, als die zur Vernichtung bestimmten Menschen ausgemustert wurden, war sie nicht dem Häuflein Handwerker und Ärzte zugeordnet worden, deren nützliches Leben man erhielt – die Existenz des verblühten, ergrauten Fräuleins war nicht nötig.
Der Polizist hatte sie zu einem staubigen Erdhaufen auf dem Marktplatz gestoßen, auf dem drei betrunkene Männer standen; einen von ihnen, nunmehr Polizeivorstand, hatte sie vor dem Krieg gekannt – er war Verwalter irgendeines Eisenbahndepots gewesen. Sie hatte nicht einmal begriffen, dass diese drei das Urteil über Leben und Tod eines Volkes sprachen. Der Polizist stieß sie in die brodelnde Masse aus Tausenden von Kindern, Frauen und Männern, die man für unnütz erklärt hatte.
Dann gingen sie in der für sie letzten Augusthitze zum Flugplatz, vorbei an staubigen Apfelbäumen, die die Straße säumten, zum letzten Mal stießen sie durchdringende Schreie aus, rissen sich die Kleider vom Leib, beteten. Natascha ging schweigend.
Sie hätte es nie für möglich gehalten, dass Blut in der Sonne so rot sein kann. Wenn für einen Augenblick das Schreien, Schießen, Röcheln verstummte, vernahm man aus der Grube das Gurgeln des Blutes – es lief über weiße Leiber wie über weiße Steine.
Dann geschah etwas ganz und gar nicht Schreckliches – sie hörte das gedämpfte Knattern der Maschinenpistole, sah das gutmütige, von der Arbeit erschöpfte Gesicht des Henkers, der geduldig wartete, bis sie sich ihm zaghaft genähert hatte und am Rand der gurgelnden Grube stand.
In der Nacht kehrte sie, nachdem sie ihr durchweichtes Hemd ausgewrungen hatte, in die Stadt zurück – Tote steigen nicht aus dem Grab, also war sie lebendig.
Und als Natascha sich durch die Höfe ins Ghetto schlug, sah sie plötzlich, dass auf dem Platz ein Volksfest im Gange war – ein gemischtes Blas- und Streichorchester spielte die wehmütig verträumte Melodie eines Walzers, der ihr schon immer gefallen hatte, und bei verhangenem Mond und trüben Straßenleuchten drehten sich die Paare, Mädchen und Soldaten, über den staubigen Platz – das Schleifen der Schritte vermischte sich mit der Musik.
In diesem Moment füllte sich das Herz des verblühten Fräuleins mit froher Gewissheit – und sie sang leise im Vorgefühl des sie erwartenden Glücks, und manchmal, wenn niemand sie sah, versuchte sie sogar, Walzer zu tanzen.
47
David erinnerte sich nur mühsam an alles, was nach dem Beginn des Krieges geschehen war. Doch eines Nachts im Waggon tauchte im Kopf des Knaben das kürzlich Durchlebte mit greller Klarheit wieder auf:
In der Dunkelheit bringt ihn die Großmutter zu den Buchmans. Der Himmel ist voll kleiner Sterne, der Himmelsrand hell, von grünlich zitronengelber Farbe. Klettenblätter streifen seine Wangen wie die kalten, feuchten Finger eines Unbekannten.
Auf dem Speicher, hinter einer falschen Ziegelmauer, sitzen Menschen in ihrem Versteck. Das schwarze Blechdach wird tagsüber glühend heiß. Manchmal riecht es in dem Speicherversteck nach Öl. Das Ghetto brennt. Am Tag liegen alle ganz unbeweglich in dem Versteck. Swetlanotschka, die Tochter der Buchmans, weint eintönig vor sich hin. Buchman hat ein krankes Herz; tagsüber halten ihn alle für tot. Nachts aber isst er und zankt sich mit seiner Frau.
Und plötzlich Hundegebell. Stimmen, die nicht Russisch sprechen: »Asta! Asta! Wo sind die Juden?« Über ihnen schwillt das Poltern an: Die Deutschen sind durch die Dachluke aufs Dach geklettert.
Dann hört der am schwarzen Blechhimmel dröhnende Donner von deutschen Stiefeleisen auf. Hinter der Wand sind heimtückische, gedämpfte Schläge zu hören – jemand klopft die Wände ab.
Im Versteck tritt Stille ein, beklemmende Stille. Schulter- und Halsmuskeln sind gespannt, die Augen quellen vor Anstrengung aus den Höhlen, die Münder sind aufgerissen.
Die kleine Swetlana hatte, kurz bevor das suchende Klopfen an der Wand begann, ihre Klage ohne Worte angestimmt. Das Weinen des Mädchens brach jäh ab. David drehte sich nach ihr um und begegnete den irr flackernden Augen von Swetlanas Mutter, Rebekka Buchman.
Später tauchten in seiner
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