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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Bulle laut brüllte; vielleicht beklagte er sich, vielleicht bettelte er auch um Mitleid. Entsetzen überkam den Jungen; neben den Güterwagen aber gingen die Bahnarbeiter her, in zerlumpten, speckigen Arbeitsjacken, und wandten nicht einmal das müde, abgehärmte Gesicht in die Richtung des brüllenden Bullen.
    Eine Woche nach Davids Ankunft brachte die Nachbarin der Großmutter, Deborah, die Frau des in der Landmaschinenfabrik arbeitenden Schlossers Lasar Jankelewitsch, ihr erstes Kind zur Welt. Im Jahr zuvor hatte Deborah ihre Schwester in Kodyma besucht, und während eines Gewitters hatte sie der Blitz getroffen. Man hatte Wiederbelebungsversuche mit ihr angestellt, sie mit Erde zugeschüttet; zwei Stunden hatte sie wie tot dagelegen. In diesem Sommer aber brachte sie ein Kind zur Welt. Fünfzehn Jahre lang hatte sie keine Kinder gehabt. Die Großmutter erzählte David die Geschichte und fügte hinzu:
    »So reden die Leute; sie ist aber außerdem voriges Jahr operiert worden.«
    So gingen denn die Großmutter und David zu den Nachbarn.
    »Na, Lusja, na, Deba«, sagte die Großmutter und betrachtete das zweibeinige Wesen, das in einem Wäschekorb lag. Sie sagte dies mit so drohender Stimme, als wolle sie Vater und Mutter davor warnen, dieses Wunder jemals auf die leichte Schulter zu nehmen.
    In dem kleinen Haus an der Eisenbahnlinie wohnte die alte Sorkina mit ihren beiden Söhnen, den taubstummen Friseuren. Alle Nachbarn hatten Angst vor ihnen, und die alte Partynskaja hatte David auf Ukrainisch erzählt: »Sie sind ganz friedlich, solange sie sich nicht besaufen, aber wenn sie saufen, fallen sie übereinander her, schnappen sich Messer und schnauben wie die Pferde.«
    Einmal hatte die Großmutter der Bibliothekarin Mussja Borissowna durch David ein Gläschen saure Sahne bringen lassen. Mussja Borissowna hatte ein winziges Zimmerchen. Auf dem Tisch stand ein kleines Tässchen, an der Wand hing ein kleines Regälchen, darauf standen kleine Büchlein, und über dem Bettchen hing eine kleine Fotografie. Auf der Fotografie war Mama mit David abgebildet, der in eine Windel gewickelt war. Als David die Fotografie anschaute, war Mussja Borissowna errötet und hatte gesagt: »Deine Mama und ich, wir haben in der gleichen Schulbank gesessen.«
    Er hatte ihr laut die Fabel von der Grille und der Ameise vorgelesen und sie ihm mit leiser Stimme den Anfang des Gedichts: »Wie der Wald gerodet ward, musste Sascha weinen …«
    Am Morgen war der ganze Hof in Aufruhr: Solomon Slepoi war der über den Sommer in einem Beutel vernähte und mit Naphthalin eingepuderte Pelz gestohlen worden.
    Als die Großmutter von dem Verlust von Slepois Pelz erfuhr, sagte sie: »Gott sei Dank, wenigstens eine Strafe für diesen Schurken.«
    David erfuhr, dass Slepoi ein Denunziant war; in der Zeit, als Fremdwährungsgeld und goldene Fünfrubelstücke konfisziert wurden, hatte er viele Leute verraten. Im Jahr 37 hatte er erneut Menschen denunziert. Von denen, die er verraten hatte, waren zwei erschossen worden, und einer war im Gefängniskrankenhaus gestorben.
    Die schrecklichen Geräusche der Nacht, das unschuldige Blut und der Gesang der Vögel – alles vermischte sich zu einem brodelnden, siedend heißen Brei. Erst in ein paar Jahrzehnten würde David diese Mixtur verstehen können, doch er spürte Tag und Nacht in seinem kleinen Herzen ihren sengenden Reiz und ihr Grauen.
    50
    Für die Abschlachtung von verseuchtem Vieh werden vorbereitende Maßnahmen getroffen: Transport und Konzentration in Schlachtzentren, Instruktion von qualifizierten Arbeitern, Ausheben von Rinnen und Gruben.
    Die Bevölkerung, die den Behörden hilft, das verseuchte Vieh in die Schlachtzentren zu schaffen oder entlaufene Rinder einzufangen, tut dies nicht aus Hass auf die Kälber und Kühe, sondern aus Eigennützigkeit.
    Auch bei der Massenschlachtung von Menschen wird die Bevölkerung aus eigenem Antrieb nicht von Hass auf die zur Vernichtung bestimmten Greise, Kinder und Frauen gepackt. Deshalb muss die Aktion zur Massenschlachtung von Menschen auf besondere Weise vorbereitet werden. Hier reicht Eigennützigkeit nicht aus, hier müssen in der Bevölkerung Hass und Abscheu geweckt werden.
    In ebendieser Atmosphäre des Hasses und des Abscheus wurde die Vernichtung ukrainischer und weißrussischer Juden vorbereitet und durchgeführt. Seinerzeit hatte Stalin auf dem gleichen Boden, die Wut der Massen mobilisierend und anschürend, den Vernichtungsfeldzug gegen das

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