Leben und Schicksal
bringen und jedes Mittel einzusetzen, um das glorreiche Ziel – zukünftige Größe des Heimatlandes, Glück der Menschheit, der Nation, der Klasse, weltweiter Fortschritt – zu erreichen.
Und noch eine dritte Kraft wirkt im Verein mit dem Lebenstrieb und der hypnotischen Kraft großer Ideen auf die Menschen ein – die Angst vor schrankenloser Gewalt, vor dem sanktionierten Mord des allmächtigen Staats, zu dessen alltäglicher Praxis er gehört.
Die Gewalttätigkeit des totalitären Staates ist so groß, dass sie aufhört, Mittel zu sein, und sich in einen Gegenstand mystischer, religiöser Verehrung und Begeisterung verwandelt.
Wie anders wären sonst die Überlegungen einiger intelligenter Juden zu erklären, die in der Einsicht gipfeln, dass die Ermordung ihres Volkes für das Glück der Menschheit notwendig sei und dass auch sie im Bewusstsein dieser Tatsache bereit sein sollten, ihre eigenen Kinder zu den Schlachtbänken zu führen; um des Glücks des Heimatlandes willen sollten sie bereit sein, das Opfer zu bringen, das einst Abraham gebracht habe.
Wie anders könnte man es sonst erklären, dass ein Dichter, seiner Herkunft nach Bauer, ausgestattet mit Vernunft und Talent, in aller Aufrichtigkeit des Gefühls ein Poem schreibt, das die blutige Leidenszeit der Bauernschaft besingt, die Zeit, die auch seinen Vater, einen ehrlichen, einfachen Landarbeiter, verschlungen hat.
Ein Mittel, mit dem der Faschismus auf den Menschen einwirkt, ist dessen vollständige oder fast vollständige Blendung. Der Mensch glaubt nicht daran, dass ihn die Vernichtung erwartet. Man konnte nur staunen, wie groß noch der Optimismus der bereits am Rand des Grabes Stehenden war. Auf dem Nährboden der wahnwitzigen, manchmal schmutzigen, manchmal niederträchtigen Hoffnung erwuchs Unterwürfigkeit, die dieser Hoffnung entsprach – eine erbärmliche, manchmal auch niederträchtige Unterwürfigkeit.
Der Warschauer Aufstand, der Aufstand in Treblinka, der Aufstand in Sobibór, kleine Meutereien und der Aufstand der Brenner – sie entsprangen ohne Zweifel der Hoffnungslosigkeit.
Die totale und klar empfundene Hoffnungslosigkeit jedoch verursachte natürlich nicht nur Aufstände und Widerstand, sie erzeugte auch den einem normalen Menschen unverständlichen Wunsch, endlich hingerichtet zu werden.
Die Menschen stritten sich sogar um ihren Platz in der Schlange vor dem blutigen Graben, und eine hochgradig erregte Stimme verkündete beinahe jubelnd: »Juden, habt keine Angst, es passiert nichts Schlimmes – fünf Minuten, dann ist alles vorbei!«
Alles, alles war eine Frucht der Unterwürfigkeit, der Hoffnungslosigkeit und der Hoffnung. Menschen mit gleichem Schicksal haben ja nicht auch den gleichen Charakter.
Man muss auch darüber nachdenken, was ein Mensch erdulden und erfahren musste, damit er über die Gewissheit seiner baldigen Hinrichtung glücklich war. Darüber sollten einmal viele Menschen nachdenken, besonders diejenigen, die zu Belehrungen darüber neigen, wie man gegen die Umstände hätte ankämpfen müssen, von denen diese hohlköpfigen Schulmeister durch einen glücklichen Zufall keine Ahnung haben.
Stellt man die Unterwürfigkeit des Menschen der schrankenlosen Gewalttätigkeit gegenüber, so muss man eine Schlussfolgerung ziehen, die für das Verständnis des Menschen und seine Zukunft von grundlegender Bedeutung ist.
Macht die menschliche Natur einen Wandel durch? Ändert sie sich im Siedetopf der totalitären Gewalt? Geht dem Menschen der ihm eigene Drang nach Freiheit verloren? Mit der Beantwortung dieser Frage entscheidet sich das Schicksal des Menschen und das Schicksal des totalitären Staates. Eine Veränderung der ureigenen Natur des Menschen wird zum weltweiten und ewig währenden Triumph der Staatsdiktatur führen; in dem unabänderlichen menschlichen Bestreben nach Freiheit ist das Urteil über den totalitären Staat beschlossen.
Da sind die großen Aufstände im Warschauer Ghetto, in Treblinka und Sobibór, da ist die riesige Partisanenbewegung, die in unzähligen von Hitler versklavten Ländern aufloderte. Da ist der poststalinistische Berliner Aufstand im Jahr 1953 und der ungarische Aufstand im Jahr 1956, da sind die Aufstände, die nach Stalins Tod in den Lagern Sibiriens und des Fernen Ostens aufflammten. Die polnischen Bummelstreiks in der gleichen Zeit, die studentische Protestbewegung gegen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die sich auf viele Städte ausgeweitet hatte, die Streiks
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